Frisch gepreßt #352: Beach House „Thank Your Lucky Stars“

Der Herbst ist der Bruder des Schlafs. Des Schlummers, durchwoben von Träumen und Erinnerungen, in denen sommerliches Gelächter, leise Tränen, zehrende Sehnsüchte und wolkige Leichtigkeit nachhallen wie aus einem Kino am Ende einer verlassenen nächtlichen Straße. Da erklingt auch Musik, die im Moment des Erklingens schon ertrinkt im tiefen Blau der Ewigkeit, in einem Pool, einem See aus Hall und Leere. Am Strand steht ein kleines Haus, in dessen Fenstern nachts Kerzen brennen.

Nicht ganz nüchtern betrachtet wirkt das neue, das sechste Album von Beach House (und das zweite innerhalb von zwei Monaten!) wie eine sehr extended Version jener berühmten Vor-Schluß-Szene in Jack Claytons „Great Gatsby“-Verfilmung von 1974, in der scheinbar ganz offensichtlich nichts passiert und vermeintlich alles geklärt ist, und als dann alles auf einmal passiert und das ganze, die gesamte Erlebniswelt umspannende Phantasiegebilde mit einem Schuß in Trümmer fällt, ist es zu spät und der zeitlose Augenblick absoluter Unbeschwertheit längst zur Ewigkeit geronnen, zur Erinnerung, die für immer bleibt, wenn und obwohl alles vergangen ist, völlig und restlos. Es soll Menschen geben, die von dem ganzen Film nur diese Szene im Gedächtnis behalten und alles andere, auch ihre mörderische Zernichtung, vergessen haben.

Für Beach House – Sängerin/Keyboaderin Victoria Legrand und den Gitarristen Alex Scally – ist „Thank Your Lucky Stars“ (der Titel entstammt einer britischen TV-Musiksendung, die von 1961 bis 1966 für Popmusikfans unverzichtbar war) zugleich eine Weiterentwicklung („wobei wir“, wie Scally schon zum Ende August erschienenen Vorgänger „Depression Cherry“ meint, „den kommerziellen Hintergrund, in dem wir existieren, völlig ignorieren“) und das Schließen eines Kreises: So sparsam instrumentiert, luftig arrangiert und vermeintlich schwerelos wie hier hat man das Duo seit seinen ganz frühen Tagen vor elf Jahren nicht gehört. Ideale Musik, möchte man meinen, um damit eine herbstliche Wohnung zu füllen, während man sich den jahreszeitlich bedingten Auf- und Umräumarbeiten widmet, Geschirr spült, Wäsche wäscht, Bücherregale abstaubt, Wände streicht, Möbel neu arrangiert: Man nimmt sie nebenbei kaum wahr, und sie ist trotzdem da, wie der Duft von Blumensträußen und Birnenquitten auf der Fensterbank.

Aber freilich trügen die harmlos schwebenden Melodiebögen, die schimmernden, scheinbar unbeteiligt vorgetragenen Klänge, die unscheinbar kargen elektrischen Rhythmen, die weltferne, körperlose Stimme von Victoria Legrand, die gelegentlich an Debbie Harry, Hope Sandoval beziehungsweise Nico erinnert. Worum es ihr geht, ist – das war noch nie so deutlich spürbar wie hier – der Song selbst als pures Artefakt, unbenetzt von Soundeffekten, interpretatorischen Individualismen und Schnickschnack. Die Verträumtheit, die man an und in Liedern wie „Somewhere Tonight“, „All Our Yeahs“ und „She’s So Lovely“ zu spüren meint, verfliegt augenblicklich, wenn man zum Beispiel „Elegy To The Void“ in angemessener Lautstärke hört und richtig hinhört.

Dann erstehen diese Songs zu wahrer Größe, dann schüttelt man erstaunt den Kopf über den Gedanken an eine Rückentwicklung, den flüchtigen Eindruck von Belanglosigkeit und Ungreifbarkeit. Dann tun sich auch Abgründe auf, die die leise Tränen und zehrenden Sehnsüchte der Sommererinnerung schlucken, und die Wirkung ist – viel mehr als auf eher poppigen Alben wie „Teen Dream“ (2010) und „Bloom“ (2012) – enorm heilsam. Mag er kommen, der Herbst; unser Schlaf wird ruhig und friedlich sein.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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