Belästigungen 23/2015: Vom stetigen Fortschreiten ins immer Schlimmere (und wie man ihm seitwärts entkommt)

Ein guter Freund, dessen Beruf es ist, zum Zwecke der Aufklärung vor Fernsehkameras sogenannten wichtigen Menschen heikle Fragen zu stellen, wünschte neulich von einem Philosophen zu erfahren, ob es generell und überhaupt einen „Fortschritt“ gebe.

Eine durchaus interessante Frage, der kluge Menschen seit Jahrhunderten nachsinnen und dabei zu durchaus differenzierten, im Ergebnis aber eindeutigen Antworten kommen: Aber ja, es gibt ihn, den Fortschritt, und er führt immer zum Schlimmeren. Es ist dem Menschen, möchte man meinen, offenbar ins genetische Muster hineingeprägt, Erlösung aus dem Elend, in das ihn der Fortschritt hineingesemmelt hat, ausgerechnet wiederum von einem Fortschritt zu ersehnen.

Beispiele für diesen verhängnisvollen Mechanismus bietet die Menschheitsgeschichte in solchem Überfluß, daß dagegen ein Kugelsternhaufen einer Hosentasche voller Schusser ähnelt: Von einer traditionell dem Fortschritt verschriebenen Partei deutscher „Sozialdemokraten“, die zu selbigem Behufe dem eisigen Technokraten und eisern neoliberalen Transatlantiker, aber immerhin integren und nachweislich nicht dummen Staatsträger Helmut Schmidt – mit dem die rückblickend geradezu friedfertig scheinende Bonner Republik endgültig zu Grabe getragen wurde – eine Kanaillerie durchkorrumpierter Witzfiguren wie Sigmar Gabriel und Andrea Nahles in einstmals halbwegs würdige Ämter nachfolgen ließ, bis hin zum putzigen Reisigbesen, der durch eine Terrorarmada von Laubbläsern verdrängt wurde, reicht das Museum der Fortschrittsübel; und was immer man im weiten Feld dazwischen aufklaubt, bietet ein weiteres Exempel.

Da wundert es einen nicht mehr, daß inzwischen eine ganze Junggeneration, deren Vorläufer einst fröhlich und sexuell elektrisiert einer vermeintlichen Gesamtfreiheit entgegen fortschritten, per Totalökonomisierung so wirksam verblödet ist, daß sie statt Erkenntnis und Emanzipation Verschleierung und Unterwerfung anstrebt, ein gesamtes Internet mit mythentümelndem Geraune vollstopft und sich ins Hitlerreich zurücksehnt, weil da alles noch so schön übersichtlich und im übrigen „gar nicht so schlimm“ gewesen sei. Und nebenan fordert am Straßenrand ein Ausstellungsplakat „Auf zu neuen Welten!“ Und da denkt man bloß noch: Freilich! Erst die eine Welt, die man hat, fortschreitend kaputthauen, und dann die Koffer packen und den Müllhaufen zurücklassen.

Man mag sich in desperaten Augenblicken fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, zum Beispiel den Reisigbesen gar nicht erst zu erfinden, sondern das Herbstlaub einfach liegenzulassen, damit es der früher oder später zuverlässig herbeibrausende Dezembersturm in Ecken und Nischen bläst und zum Igelhotel aufhäuft. Immerhin wäre der geplagten Menschenbrut auf diese Weise wahrscheinlich auch der erwähnte Laubbläser erspart geblieben.

Aber da ist man wahrscheinlich schon zu tief drin in der depressionalen Strudelspirale, gegen die selbst die auf Giesinger Schulpausenhöfen einstmals gerne zitierte Kaugummibremse nicht hilft und an deren Ende lediglich die Erkenntnis steht, daß nichts, aber auch gar nichts hilft, weil es eben so ist und geht und weitergeht, bis eines mehr oder weniger fernen Tages mit einem planetaren „Schronz!“ der Fortschrittsmotor endgültig stehenbleibt und der letzte Nachkömmling des Adelsgeschlechts von und zu Euromilliarde feststellt, daß man Geld tatsächlich nicht essen kann.

Zum Glück rettet einen aus dem kulturpessimistischen Herbstgründel eine vertraute Stimme, die darauf hinweist, daß dem Fortschritt der Energie-, Industrie- und Mobilitätsraserei sei Dank der Spätsommer mittlerweile bis in die Novembermitte hineinreicht und es deshalb dringend geboten ist, sich auf den sonnigen Viktualienmarkt zu begeben, auf daß das dortselbst in Flaschen gelagerte Malzgetränk nicht verkomme und das Menschengehirn sich dem hingebe, wofür es da ist: um sich am Ersinnen von zweckfreiem Unfug zu erfreuen.

Und da sitzt man dann, läßt dem zweiten Dunklen ein drittes nachfolgen, badet im Licht der Sonne, die strahlt, als gäbe es kein Morgen und müßte daher der gesamte verbliebene Wasserstoff noch vor dem Abend zu Helium verbrannt werden, und stellt gerührt fest, daß man die Menschenherde, die sich hier, wo sich grundsätzlich seit tausend Jahren nichts verändert hat, zum Zechen, Lachen, Blödeln und Leben versammelt hat, umstandslos durch eine Horde fröhlicher Hühner ersetzen könnte, ohne mehr zu bewirken als eine geringfügige Farbänderung.

Und wie der Blick in ein schwerelos und vergeblich wallendes Dunstwölkchen hineinschmilzt, kommt einem Paul Klees weithin vergessenes Bildnis des Angelus Novus in den Sinn, und man erinnert sich mit einem nostalgisch sehnenden Lächeln dessen, was der leider ebenfalls weithin vergessene Walter Benjamin 1940 dazu schrieb:

„Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Und dann wendet man den Blick seitwärts, läßt es gut sein und holt noch zwei Bier, bevor es dunkel wird.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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