Frisch gepreßt #347: Herrenmagazin „Sippenhaft“

„Wenn man sich zwanzig, dreißig Jahre mit Rockmusik beschäftigt, passiert es nicht mehr oft, daß man von einer Band, einem Album spontan so begeistert ist, daß man weiß: Das wird mir bleiben, für Jahre, vielleicht für immer, wird mich auf ewig an den gewaltigen Moment erinnern, in dem ich es zum ersten Mal, an die verzauberten Tage und Wochen, in denen ich nichts anderes gehört habe.“ Diese Zeilen äußerte ich vor gut fünf Jahren anlässlich des zweiten Herrenmagazin-Albums über deren erstes, noch mal zwei Jahre älter und damit im branchenmäßigen Sinne längst „durch“, in meiner musikalischen Grundausstattung aber ebenso unverzichtbar wie Gerste im Bier, Käse auf der Pizza, nein: sagen wir Wasser bzw. Hefe, ohne die geht’s wirklich nicht.

Es verging seitdem kein Jahr ohne mindestens eine Herrenmagazin-Phase, in der ich tage-, wochenlang nichts, wirklich gar nichts anderes hören will und kann, weil nichts annähernd herankommt, nichts vergleichbar ist mit diesen Wunderdrogen, die Rausch-, Heil- und Suchtmittel zugleich sind. So wurde aus einer, zwei, dann drei Platten eine Band fürs Leben, auf die man sich verlassen kann und konnte, die mit dem Urschreiknall „Atzelgift“ mit atemloser Wut, atemraubender Trauer und einer himmlisch-höllischen Weltexplosion von Gitarren und Schlagzeugen selbst die frühen Ton Steine Scherben aus dem Hirn fegte, auf „Das wird alles einmal dir gehören“ mit Geschichten von niederschmetternder Bildmacht und das Universum füllenden Melodien (für die die passenden Stadien leider immer noch nicht gebaut sind oder sich füllen mögen) seitwärts über sich hinauswuchs. Die mit „Das Ergebnis wäre Stille“ auf eine Weise poetisch und musikalisch reifte, wie das zuvor höchstens den Manic Street Preachers mit „Everything Must Go“ gelang, nein: passierte, weil so etwas niemand planen oder bewußt wollen kann.

Jetzt kommt der vierte Schritt, der vierte Gipfel in dem seltsamen Gebirge der deutschen Rockmusik, das ansonsten überwiegend aus Wanderdünen besteht, und längst ist jede Furcht verflogen, Herrenmagazin könnten mit einem schlimmen Patzer rückwirkend einreißen, was sie in Hirn und Herz dessen, der sie zur Lebensdefinition so dringend braucht wie die eigenen Tagebücher, aufgebaut haben.

Längst weiß man: Die können nichts falsch machen, allerhöchstens dauert es ein wenig, bis man alle Tiefen, Winkel, Nischen, Fein- und Einzelheiten erkundet hat, sie sich zu einem großen Ganzen formen und verbinden, das erneut weit mehr erfüllt und verkörpert als einen Sommer, ein Jahr.
Typisch dafür sind die Texte: Die kann und wird man größtenteils nie verstehen, aber man begreift sie von der ersten Zeile an, weil die zwischen Distanz, Zorn, Analyse und brachialen Reflexen changierenden Couplets, die Unbedarften wie Resultate einer eigentümlichen soziologisch-lyrisch/subjektiven Cut-up-Technik erscheinen mögen, in jedem Gemüt und/oder Gedächtnis ein Häkchen finden, an dem sie sich einhaken und das sie assoziativ und sozusagen symbiotisch mit erleuchtendem, befreiendem, oft hochromantisch getöntem Sinn erfüllen.

Musikalisch geht die Reife weiter. Die typischen Schreddergitarren, der aus Kraut-Motorik, Punk-Ekstase und schierer technischer Brillanz geborene Schlagzeugdonner sind nach wie vor zu finden, aber nicht mehr als alleinige Wesensmerkmale und nicht mehr in unraffinierter Urform, sondern entwickelt, erwachsen in ein Biotop der Perfektion, in dem es kein Unkraut gibt, nur Wunder und Schönheit. Vielleicht bestes Beispiel: der Titelsong, bei dem die hohe (und von kaum jemandem beherrschte) Kunst des Weglassens so weit getrieben ist, daß die Zeit stehenbleibt und zur Ewigkeit wird.

Nein (schrieb ich damals), ihre Musik ist für Herrenmagazin kein Beruf, selbstverständlich auch kein „Hobby“, sondern das Leben. Das ist es wahrscheinlich, was diese Musik und diese Band so einzigartig und einmalig macht: daß daran nichts konstruiert, gewollt, bemüht klingt, keine Vorlagen, Vorgaben, „Elemente“ verarbeitet oder eingebaut werden, sondern alles natürlich entsteht, wächst und fließt. Deshalb wirken ihre Songs so entwaffnend und mitreißend: weil sie sich nicht anbiedern; du kannst sie hören, wenn du willst – aber mach dich, wie gesagt, darauf gefaßt, daß sie dich nicht mehr loslassen. Daß dich diese Band dein Leben lang begleiten wird, weil (ich zitiere eine Herrenmagazin-Zeile von 2010): „In mir trag ich alles / Was du dir vorstellen kannst.“

Aber hängen wir alles ein paar Äste niederiger: Wichtig an Herrenmagazin ist nicht ihre Genialität, ihre Bedeutung, ihre Wichtigkeit. Sondern die reinigende Kraft ihrer Songs. Sie räumen das Herz, die Seele, den Kopf frei, und egal wie schlecht es einem geht, bevor man sie hört – danach geht es einem besser. Herrenmagazin sind bloß vier Jungs, die Musik machen. Eine Band. Zufällig die beste, die ich kenne. Die um ihr Leben spielt, um euch, uns, allen, die ein Herz und ein Hirn haben, klarzumachen, was Rockmusik bedeuten kann. Nein: was sie bedeutet. Vielleicht nichts, notfalls alles.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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