Einen Urknall erkennt man manchmal nicht unbedingt daran, was plötzlich alles da ist, sondern vielmehr an dem, was plötzlich nicht mehr da oder zumindest nicht mehr sicht- und unterscheidbar ist.
Zum Beispiel war die gesamte Popmusik vor ungefähr zweieinhalb Jahren, als die erste Single der Londoner Band Palma Violets erschien, mit einem Schlag ziemlich leer: Da surrten und bifften im riesigen Nichts lediglich ein paar belanglose, weitgehend identische Elementarteilchen herum, während der gesamte gerade scheinbar noch so bunt wimmelnde Kosmos überstrahlt und erleuchtet war vom tiefblauen Licht, von der dunkel wogenden Energie einer Band, mit der niemand im Traum gerechnet hatte.
Lustigerweise bekam das kaum jemand mit. Mag sein, daß Elementarteilchen kein Bewußtsein und keine Sinnesorgane für etwas haben, was jenseits ihrer Naturgesetze passiert und diese Gesetze mitsamt ihrer sogenannten Natur als faden Kinkerlitz entlarven. Mag sein, daß Popmusik tatsächlich relevant ohnehin nur für jene ist, die über ein solches Organ verfügen und daher bemerkten, daß sie seit Jahren in einem Vakuum lebten. Aber auch die ahnten nichts. Es knallte plötzlich ur, und – zack! – war das Vertraute nur noch grauer Brei.
Das Geheimnis der Größe von Popmusik ist, mehr zu wollen (und zu behaupten), als man kann. Das galt für die Beatles, die gerade noch eine Beatkapelle und im nächsten Moment das Phänomen des Jahrhunderts und berühmter als Jesus waren. Es galt für die Sex Pistols (die viel mehr konnten, als sie behaupteten, was die Sache aber nur noch größer machte), für The Clash (die in kürzester Zeit mehr lernten, als die meisten anderen je können werden), für Oasis, auch für die Libertines, mit denen die Palma Violets, nachdem die Debütsingle „Best Of Friends“ vom NME als „Song des Jahres“ bejubelt und der Nachfolger „Step Up For The Cool Cats“ von Zane Lowe zur „heißesten Platte der Welt“ ernannt worden war, eifrig verglichen wurden. Zu Recht und doch nicht: die waren damals, gut ein Jahrzehnt zuvor, der Hauptfelsen in einer gewaltigen Lawine, der zudem von Anfang an chaotisch am Zerbröseln war. Das Debütalbum „180“ der Palma Violets war und ist ein Monolith für die Ewigkeit.
Die Welt, wie gesagt, weiß davon wenig bis nichts. Das ist kein Problem für eine Band, die sich einen eigenen Kosmos geschaffen hat und ihn vollständig ausfüllt. Und die jetzt mehr will, viel mehr, wesentlich mehr als sie kann und als jemals jemand können wird (mangels Intuition): 16 Songs (den albern-coolen Opener mal substrahiert)! Nein: Hymnen! Instant-Klassiker! Mit eingebauter Selbstsabotage durch Tempo-, Takt-, Rhythmus- und Harmoniewechsel am laufenden Band! Arrangements wie eine Wundertüte, die jemand in die Moulinette gekippt hat (ohne Deckel)! Eine Produktion (John Leckie!), bei der man sich mit geschlossenen Augen automatisch einen Übungsraum vorstellt. Und zwar einen, der ungefähr so groß ist wie drei Olympiahallen.
Und eigentlich ist in „Hollywood (I Got It)“ schon alles drin, womit andere Bands ganze Alben füllen, vielleicht abgesehen vom rudimentären Text, dafür inklusive Grande Finale. Aber „Girl, You Couldn’t Do Much Better On The Beach“ knallt, donnert, strahlt, rockt und überrascht gleich noch ein Stück mehr, bis hin zum ziemlich unverschämten Fade-out. Und dann ist der erste Dampf abgelassen und geht es mit dem Titelsong erst richtig los, und wenn es überhaupt etwas gibt, was den Hörer im Verlauf der folgenden 13 Tracks nerven könnte, dann: daß man sich das alles gar nicht merken kann, auch nicht beim vierten Hören, weil immer wieder was Neues, Sensationelles, Irres daherkommt.
O yeah. Der Urknall war vor zwei Jahren, jetzt ist ein Universum da. Und es braucht nur eine einzige Band, um es mit Wahnwitz, Liebe, Schönheit und Hysterie zu füllen. Wow.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.