In den letzten Jahren ist viel von Demokratie, Bürgerrechten und Zivilcourage die Rede – vor allem in der Auslandsberichterstattung, wo es darum geht, dem deutschen Bürger schmackhaft zu machen, daß zwecks Erlangung dieser „Werte“ in anderen Ländern Umstürze, Staatsstreiche und Militäreinsätze unabdingbar sind. Wie gut, salbadern dann stets die Kommentatoren, daß es bei uns eine Verfassung gibt, die die Grundrechte schützt.
Jawohl, gut so, und daß die bayerische Verfassung kaum noch einer kennt, ist ja wurst, solange wohlmeinende Behörden und Beamte dafür sorgen, daß sie weiterhin getreu umgesetzt wird. Verfassungen allerdings gibt es anderswo auch; da steht indes möglicherweise nicht überall etwas von der Zugänglichkeit und Allgemeinverfügbarkeit des öffentlichen Raums drin. Bei uns schon. Da darf man hinein und sich aufhalten, und wenn in letzter Zeit immer öfter Konzerne und internationale Kriegsvereine den öffentlichen Raum für sich beanspruchen, dann ist das halt ein Ärgernis, aber bei weitem nicht so schlimm wie zum Beispiel damals in der DDR oder so.
Circa zweimal täglich trägt mich mein Fahrrad durch den Olympiapark, der zwar von Haus aus schon keine „landschaftliche Schönheit, ist und in den letzten Jahren durch ausuferndes Eventgebimmel so umgestaltet wurde und wird, daß er zeitweise einem überdimensionierten Flipperkasten aus den frühen Achtzigern ähnelt. Aber immerhin ist er ein „Erholungspark“ und bietet nebenbei eine günstige Abkürzung in den schönen Münchner Norden, wo das Leben noch eine Freude ist, weil ihn die Eventbimmler noch nicht „für sich“ entdeckt haben.
Neulich wollte ich da wieder einmal hindurch, als sich mir plötzlich auf Höhe der Schwimmhalle ein stämmiger Mann in der Uniform eines ukrainischen Kombattanten in den Weg stellte, ein Plastikband über den Weg spannte und mich „So, der Herr!“ nannte. Da, sagte er, dürfe ich nicht hindurch. Das dürfe ich wohl, entgegnete ich und ersuchte um eine Erklärung.
Der Park sei zwecks Durchführung einer Rockveranstaltung gesperrt, erklärte er und fügte auf meine Frage, wer sich hier anmaße, die bayerische Verfassung außer Kraft zu setzen, hinzu, dies sei die Stadt München. Einen Ansprechpartner oder eine Beschwerdestelle könne er nicht nennen, die Firmenbezeichnung seines direkten Auftraggebers dürfe er ebenfalls nicht verraten. Ein neugierig herbeischlendernder Polizist teilte mit, die Durchführung derartiger Veranstaltungen entspreche „sicherlich“ der Anlagensatzung. Es sei mir neu, sagte ich, daß eine Anlagensatzung einfach so die bayerische Verfassung brechen dürfe. Er zuckte die Schultern und meinte, das sei „halt so“.
Inzwischen hatte sich eine etwa zehnköpfige Gruppe jugendlicher Radlerinnen angesammelt, die den gleichen Weg hatten wie ich und nun lange Gesichter zogen. „Mädels“, rief ich, „Verbrecherbanden haben den Olympiapark besetzt! Es ist an der Zeit, unser Bürgerrecht zu erkämpfen!“
Sie blickten skeptisch. „Hier ist Zivilcourage gefragt!“ rief ich weiter. „Jetzt sind wir eine Handvoll, aber wenn wir eine Stunde warten, werden wir hunderte sein!“ Der Polizist lächelte unsicher und sagte, das sei doch ein Schmarrn. Die Mädchen, inzwischen verstärkt durch einige weitere Radfahrer, von denen immerhin einer in traditioneller Trachtenkleidung schimpfte, es handle sich um einen Skandal und er könne ja demnächst auch einfach mal den Mittleren Ring sperren, um auf der Fahrbahn Zither zu spielen, dann sei er ja gespannt.
Eine rechte Revolutionsstimmung wollte jedoch nicht aufkommen. Die Mädchen beschlossen, „das“ sei „halt so“, und zogen ab, der Zitherrebell fuhr kopfschüttelnd ebenfalls von dannen. Ein Trupp von Eventwilligen in grimmigen T-Shirts mit Tötungsdrohungen und Abbildungen unirdischer Ungeheuer ließ sich belehren, dies sei kein Eingang und sie müßten eine halbe Stunde Umweg über den Ring, die Lerchenauer Straße und das Olympiadorf in Kauf nehmen, um zwei Meter weiter rechts beim ordentlichen Eingang anzulangen, murrte nicht einmal und setzte auch keine seiner gedruckten Tötungsdrohungen in die Tat um, sondern tippelte unter Mitführung der längst zur Ungenießbarkeit erwärmten Paletten von Billigbier von dannen.
Ich gab nicht so leicht auf und erlangte schließlich von dem Kombattanten die Genehmigung, sein Plastikband zu unterschreiten und über eine Treppe an einer Tut-ench-Amun-Ausstellung vorbei wenigstens eine halbe Abkürzung zu machen. Ob in der Ausstellung erwähnt wurde, wie sehr sich der ägyptische Pharao stets um die Wohlfahrt der ihm göttlicherseits zugeteilten Bevölkerung bemühte, weiß ich nicht. Der Eintritt war zu teuer, und egal ist’s außerdem, weil heute sowieso niemand mehr einen wählen oder erkiesen täte, der aussieht wie Freddie Mercury und die Belange der „Wirtschaft“ nicht jederzeit bedingungslos über das Lebensglück der „kleinen Leute“ stellt.
Abends versuchte ich meine Gedanken zu diesem Geschehnis in kämpferische Worte zu fassen, was aber nicht recht glücken wollte, weil vom Olympiapark her stumpfes Dumpfgestampfe scholl, wegen ungünstiger Windlage zeitweise überdröhnt von den Automassen auf dem Mittleren Ring, den der Zithermann offenbar doch keiner Sperrung unterzogen hatte. Irgendwann war das Hirn vom Lärmgetobe lahmgelegt und mürbe; es blieb nur noch die in Bayern immerhin meist verfügbare Gegendröhnung mit notfalls genießbarem Teuerbier und das Fügen in die Einsicht: „Das ist halt so.“
Es gibt ja auch viel schlimmere Mißstände, stimmt’s, vor allem im Ausland, und was ist das Recht auf Zugang zum öffentlichen Raum und seinen landschaftlichen Schönheiten gegen das Recht auf Internet, Fernseh, Einkaufen und Rockevents? Was sind dagegen schon Demokratie, Bürgerrechte und sonstiges Geplänkel vor der eigenen Haustür?
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.