Belästigungen 10/2015: Ich und die Krakenschwester bei der Toten Armee (inkl. Farbeinspritzung und DNA-Kneifzange)

Die Finger sind manchmal kaum mehr als ein Werkzeug, das das Unterbewußtsein (oder das Überbewußtsein? Wer weiß so was schon!) einsetzt, um seinem Protest gegen die Zumutungen des Alltags ein Ventil zu verschaffen, das ordentlich zischt.

Das zeigt sich bei der Haupttätigkeit des modernen Tätigkeitlers: dem Drauftippen auf Tasten, wodurch angeblich sinnvolle „Informationen“ erzeugt werden, die man dann hinaussenden kann in die Welt, damit die Menschen zu informierten Menschen werden und ihre Lebensqualität ein Ausmaß erreicht, das vor dem Informationszeitalter ungeahnt war – also etwa im Garten Eden, dessen Bewohner über keinerlei Information verfügten, abgesehen von einem vagen botanisch-disziplinarischen Hinweis (und übrigens auch keinerlei Tätigkeit nachgingen).

Ich hege im allgemeinen kaum mehr Lust auf Tätigkeiten als weiland Adam und Eva, und deshalb wird mein Unterbewußtsein bisweilen grimmig, wenn man es zu arg schlaucht. Das ist das eine. Das andere ist die Sache mit den „Informationen“, bei denen es heutzutage weniger auf selbige als vielmehr auf die Auslastung der Kanäle zu ihrer Verbreitung geht. Die hat, wie man so sagt, „Priorität“.

Das heißt – und das weiß jeder, der schon mal eine Tageszeitung aufgeschlagen oder versehentlich den Radio eingeschaltet hat: Was da so in die Welt hinein informiert wird, ist im Zweifels- bis Normalfall egal. Und weil auf der Welt zwar viel, aber so viel auch wieder nicht passiert (und man über einen großen Teil davon aus Rücksicht auf „Interessen“ gar nicht informieren darf), haut man den gleichen Schmarrn halt gleich fünf- bis hundertmal hinaus, und wenn der eine Depp plärrt, der vollkommen berechtigte und bewundernswert mutige Streik der Lokführer sei eine Erpressung und ein Skandal, dann plärrt der nächste Depp den gleichen Blödsinn eben noch lauter und schnippelt ein paar Empörungsbriefmarken von „Betroffenen“ in die Desinformation hinein.

Man könnte das Manipulation nennen. Ich nenne es heute mal Redundanz. Ähnliches tritt auf, wenn mal wieder ein Jubiläum daherkommt, zum Beispiel das der Befreiung der deutschen Konzentrationslager. Zweifellos war es eine höchst erfreuliche Sache, daß die Rote Armee vor siebzig Jahren nach Deutschland hineinmarschiert ist und die Deutschen daran gehindert hat, noch mehr Millionen von Menschen umzubringen. Und angeblich sind ja inzwischen sogar die Deutschen selber ganz froh darüber; schließlich haben sie das alles ja bloß getan, weil es einer dieser Führer, nach denen Gestalten wie Arnulf Baring heute so gerne schreien, verlangt hat und sonst ganz sauer geworden wäre.

Indes ist das alles weitgehend bekannt; es gibt jede Menge Bücher und Dokumentationen dazu, die man sich bloß mal wieder durchlesen oder anschauen müßte, um nichts davon zu vergessen und sich plötzlich, weil nicht informiert, auf einem Pegida-Aufmarsch wiederzufinden. Aber leider gibt es auch die erwähnten Kanäle. Die dürfen zwar ohne weiteres fünf- bis hundertfach im Chor das gleiche plärren, aber eines dürfen sie ganz bestimmt nicht: auf Informationen hinweisen, die bereits vorliegen. Weil die jeder schon hat und keiner mehr zu kaufen braucht.

Also müssen neue Bücher und neue Dokumentationen her, in denen das bereits Bekannte neu „aufbereitet“ wird, am besten dem Zeitgeist angepaßt (also „Deutschlands neuer Stärke“ oder wie man das nennt, und ein bisserl Russenbashing wird derzeit auch gern genommen). Und noch besser: mit neuen, bislang nicht bekannten „Informationen“. Und dann muß ein armer Kerl wie ich sein Unterbewußtsein damit quälen, einen Text aus dem amerikanischen Englisch zu übersetzen, in dem niegelnagelneue Augenzeugen zu Protokoll geben, im KZ sei es „horrible“ und „terrible“ gewesen und „terrible“ und „horrible things“ passiert, und wenn meinem Unterbewußtsein das Waterboarding mit den redundanten „terrihorrible“-Varianten zu viel wird und sein Kragen platzt, bemächtigt es sich meiner Finger und tippt zum Abreagieren eine „Krakenschwester von der Toten Armee“ in die Zeilen, über die sich, falls kein Lektor dazwischengeht, zukünftige Generationen möglicherweise wundern. Oder auch nicht, bis dahin gibt es ja längst fünf Trilliarden neue Bücher.

Vielleicht wird einfach insgesamt zu viel auf Tasten herumgetippt, denke ich mir jedenfalls dann, trete in einen unbefristeten Streik und radle zum Bahnhof – nicht um mich solidarisch den Lokführern anzuschließen, die ja gar nicht da sind, sondern hoffentlich im Biergarten sitzen und neue Pläne zur Brechung der Macht der Bahnvorstände schmieden (die sich übrigens, so hört man, gerade ganz ohne Streik die Prämien auf eine knappe Million pro Kopf verdoppelt haben). Sondern um die Liebste vom Zug zu holen und beim Absitzen und -stehen der (nicht streik- sondern fahrplanbedingten) Verspätung noch schnell ein paar „Informationen“ einzuholen, um die Lebensqualität weiter zu steigern.

Und da lese ich auf einem Fahrkartenautomaten den folgenden Hinweis: „Unsere Automaten“, schreibt … hm, nun ja, jemand, „werden mit Diebstahlschutz durch unsichtbare DNA-Markierung und Farbeinspritzung gesichert.“

Und während ich vorsichtig einen großen Schritt von dem Automaten wegtrete und mir ein wahrhaft horribles und terribles Szenario vorstelle, bei dem mir von einer amerikanischen Krakenschwester von der Toten Armee mit einer überdimensionalen Kneifzange die DNS „markiert“ und mittels Injektionsnadel alle möglichen farbigen Chemikalien in den Körper hineingespritzt werden, damit ich nicht auf die Idee komme, einen Fahrkartenautomaten zu diebstehlen, frage ich mich, ob mein Unterbewußtsein (oder das Überbewußtsein von … hm, nun ja, jemandem?) nicht manchmal ein Stück zu weit geht.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1-400 gibt es in vier Bänden als Buch.

 

 

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