Belästigungen 09/2015: Vom Kirschbaum, den Liebenden und der Frage, was passiert, wenn alle das Richtige tun

Der Mensch ist so versessen auf Sensation und Neuklimbim, daß ihm bisweilen aus dem Hirn rutscht, wie wunderbar wundersam und glückbringend die und ausschließlich die Dinge sind, die immer (fast) gleich wiederkehren (und die einem im täglichen Geplümpel der Gesellschaftsdampfmaschine deswegen ebenfalls aus dem Hirn flutschen).

Oder so: Wenn der Kirschbaum blüht und man mit dem Lieblingsmenschen unter dem leuchtend weiß beschäumten und beflockten, vom Vogelvolk mit Tirili umwobenen Geäst im Gras liegt, tut, was Liebende seit Jahrmillionen tun, und den Tag in seiner unendlich farbigen Tiefe müßig wabern läßt, – dann ist es relativ … sagen wir mal: staubkörnig (von der Bedeutung her bemessen), wenn zum Beispiel ein unzufriedener Leser aus der Betriebsmaschine heraus schreit, es möge sich dieser weltfremde Wolkenkolumnenkritzler doch endlich mal von seinem elfenbeinernen Hochplateau herunter in den Wurstsuppenkessel der Krisen, Reformen und Skandale begeben, um zu berichten, was „wirklich“ los sei, und es möglichst prangernd zu kommentieren, damit „es“ besser oder irgendwas werde.

Ja nun, freilich: Es ist haarsträubend schrecklich, grauenvoll und zum Heulen, daß zum Beispiel tausende Menschen im Mittelmeer ersaufen müssen, weil sie verzweifelt versuchen, dem Elend, das der „Westen“ dort über Jahrzehnte gezielt herbeigeführt hat, um seine Oberstschicht von Fettmaden weiter mästen zu können, ohne die eigene Neunzigprozentunterschicht so sehr „reformieren“ zu müssen, daß der irgendwann doch mal der Kragen platzt und sie die angeblich allmächtige Clique von wahnsinnigen Mutanten samt ihren Haßpredigern und parlamentösen Zwecksklaven in selbiges Mittelmeer hineinschmeißt.

Aber die Frage, was dagegen zu tun sei, ist nur scheinbar zynisch. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die fürchterlichen Dinge, die sich da drunten zwischen Afrika und Europa „abspielen“, keine Naturkatastrophe sind, mit deren Bewältigung die zuständigen Exekutoren überfordert wären. Sondern dieses Massensterben (das man wahrscheinlich juristisch korrekt nicht unbedingt als Mord deklarieren kann, obwohl die „niederen Motive“ so deutlich zutageliegen wie die Absichten eines Fußballleistungsträgers, der zum Elfmeter antritt) ist von der (wir erinnern uns: mit einem sogenannten Friedensnobelpreis bekränzten) „Europäischen Union“ bewußt, systematisch und planvoll herbeigeführt. Es dient einem Zweck, und die Alternativlosigkeit des Gesamtvorgangs ist so zwingend, daß es vollkommen egal ist, welche sogenannte Regierung momentan mit der Verwaltung der Todesmaschine betraut ist – bislang sind noch in jeder noch so hoffnungsvollen Partei, sobald sie auch nur in die entfernteste Nähe einer „Regierungsverantwortung“ kam, sämtliche halbwegs vernünftigen Menschen umgehend durch die üblichen Pappkameraden der „transatlantischen“, „wirtschaftsnahen“ und sonstwie euphemistisch verbrämten Mafiabanden ersetzt worden.

Das heißt nichts anderes als: Durch Wählen, Protestieren, Gegenreden, Argumentieren ist daran nichts zu ändern, aus dem einfachen Grund, daß man einem Kriminellen, der weiß, daß er kriminell handelt, nicht zu erklären braucht, daß er kriminell handelt. Der weiß das, und wenn er sich auf Debatten einläßt, dann nur zu dem Zweck, daß die Sauereien, während sie beplappert werden, ungestört weiterlaufen können.

Die Frage der Sinnhaftigkeit eines gewalttätigen Vorgehens ist ebenfalls längst geklärt, seit die Projektgruppe Stadtguerilla in den sechziger und siebziger Jahren ansatzweise versuchte, solcherart Besserung herbeizuzwingen. Oder kann sich irgendwer erinnern, daß beispielsweise die Bundesanwaltschaft oder der Bundesverband der deutschen Arbeitgeber durch die Beseitigung ihrer damaligen Führungsgestalten in irgendeiner Weise auf lange Sicht menschenfreundlicher geworden wäre?

Freilich gelang es damals deutschen Gewerkschaften, den angesichts des dräuenden RAF-Terrors ausnahmsweise im eigenen Angstschweiß schlotternden Bonzen einigermaßen nennenswerte (und historisch einmalige) Lohnerhöhungen abzuschwätzen. Aber sind ein paar (um im Kontext zu bleiben) Mark mehr zum Verkonsumieren es wert, in den sowieso alles überschwemmenden Tsunami von Haß und Aggression noch eine zusätzliche Prise Waffengewalt hineinzuraspeln? (rhetorische Frage!)

Oder wäre es nicht vernünftiger – nein: einzig vernünftig, dem grausligen Lebensmodell, das aus derartigen Vorgängen ebenso hervorschimmert wie aus ihrem komplementären Antigerödel, etwas entgegenzusetzen, was eben nicht entgegen, sondern ganz (wo)anders und damit vollkommen frei von der verderblichen Logik ist, die zu all dem geführt hat und dafür sorgt, daß es ewig weitergeht und im Normalfall schlimmer wird?

Der Vorschlag mag, wie die Frage, zynisch erscheinen. Aber er ist der einzige, der in Jahrtausenden menschlicher Qual- und Leidensgeschichte noch nie einem praktischen Umsetzungsversuch unterzogen worden ist, und er ist der einzige, bei dem man weder Mehrheiten noch Verwaltungen, weder Propaganda noch Argumente noch Organisationen noch Parteien, weder Glauben noch Skepsis noch Überzeugungen, weder Gerede noch Gebrüll noch Lügen noch Erläuterungen, weder Geld noch Arbeit noch Massen noch überhaupt irgendwas braucht.

Fügen wir uns ins immer Wiederkehrende, legen wir uns mit dem Lieblingsmenschen unter dem Kirschbaum ins Gras und tun wir, was Liebende seit Jahrmillionen tun. Weiß jemand was besseres?

Und ja: „Wenn das alle machen?“ Ja, was dann?

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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