Frisch gepreßt #329: Bryan Ferry „Avonmore“

Contenance, die vornehm blasse Cousine, ist das distanzierteste Mitglied der Großfamilie Elegance, die schon insgesamt nicht übermäßig sociable ist und das smoothe, reclusive Countryside-Leben allemal dem nervösen Treiben in den irdischen Metropolen der Mittelmäßigkeit und Betriebsamkeit vorzieht. Von der Contenance erzählt man sich beispielsweise folgende Anekdote:

Am 29. Dezember 2000 saß sie in einem Flugzeug, das sie von London nach Nairobi tragen sollte, als ein geistig verwirrter Mensch das Cockpit erstürmte, das Steuerruder ergriff und herumriß, woraufhin es zum Handgemenge kam und das Flugzeug, ruckartig aus seiner Bahn gerissen, ein wildes Hin und Her von unkontrolliertem Sturz und Zickzackkurs vollzog, in dessen Verlauf mehrere Passagiere Verletzungen erlitten und eine Stewardess sich einen Knöchel brach. Ein fataler Absturz schien unvermeidlich; inmitten der Panik und des wilden Verzweiflungsgebrülls aber saß Contenance und wies in aller Seelenruhe einen ihrer Söhne zurecht, weil der sich in unangemessener Wortwahl äußerte.

Da die Contenance stets unter Camouflage reist, wählte sie in diesem Fall wieder einmal das Alias Bryan Ferry; der Name, man weiß es, steht verkörpernd für die Gesamtfamilie Elegance, weist aber noch weitere Konnotationen auf: Man verbindet ihn mit der Stimme der stilvollen Verlassenen, der unsterblichen romantischen Allegorie, des ungebrochenen Gebrochenen, der in seiner epochalen Einsamkeit die welke Rose hütet, die einst dem romantischen Ideal weltferner, ewiger und reiner Liebe entblühte.

Diese Stimme ist berühmt dafür, daß sie in über die Jahrzehnte schwindender Körperlichkeit über den mondänen Rhythmen diesseitiger Jenseitigkeit schwebt, mühelos changierend zwischen der Hysterie entfesselter Feste mit Melchisedech und blauem Pool, der weltfernen Sehnsucht aus der Zeit gestürzter Ideal-20er und der strahlenden Gräue mythischen Einzelseins. Sie nimmt den Schmerz derer auf, die in Tränen zerfließen, wenn ein neuer Herbst die alten Rituale bringt und wieder einmal ein Mensch davongeht, um sich den Mechanismen modernen Wimmelns zu ergeben.

So verzauberte Bryan Ferry die Welt mit Musik, von den souverän wahnwitzigen Sturzflügen der frühen Roxy-Jahre bis hin zu den fast nicht mehr wahrnehmbaren elektronischen Zitterklängen des diamantenen Zeitalters, die ohne seine Stimme zum blasierten Nichts zerblippt wären, von honigsüß träumender Nostalgie bis zum makellos schimmernden Fernfuturismus.

Fühlende Menschen unserer Epoche, der Elegance als Ideal zugeneigt, tragen diese Stimme in sich, folgten und folgen ihr durch die Dekaden, seit „Virginia Plain“ und „Song For Europe“, fanden noch im neblig-entseelten Perfektionismus der mittleren 80er bis 90er einen Hauch der Essenz, baden in tiefblauen Stunden in der Unfaßbarkeit des aller Zeit enthobenen Wunderwerks „As Time Goes By“, lassen sich noch beim tausendsten Hören die Haare aufstellen von der Reconciliation mit dem Welten fernen Seelen- und Herzensbruder Brian Eno („I Thought“, 2002).

Und sie werden mit einer leichten Geste darüber hinwegsehen, daß auf dem vierzehnten Soloalbum, das den Namen Bryan Ferry trägt, manches an die erhabene Leere von „Avalon“ (von demselben Rhett Davies produziert) erinnert, manch ein rhythmisches Fundament wie ein Aluminiumteppich wirkt und die edlen Mitmusiker – nennen wir Nile Rodgers, Marcus Miller, Maceo Parker, Mark Knopfler und Johnny Marr – bisweilen wie Schlafwandler durch die Kulissen tänzeln. Schließlich ist es die Stimme, die zählt, die – mittlerweile stellenweise fast bis zum Hauch skelettiert – immer noch alles trägt und nimmt, was das Leben schwer zu machen trachtet.

Und spätestens wenn Ferry in „Lost“ mit manikürtem Kleinfinger „Dance Away“ andeutet, Steven Sondheims millionenfach gecovertes „Send In The Clowns“ ins Gewand einer absurd-fragilen Seiltanzhymne hüllt und Robert Palmers „Johnny & Mary“ zum Sinnbild menschlicher Vergeblichkeit reduziert, wagen sie ein Lächeln: Da ist sie wieder, die Contenance im Angesicht aller Abgründe.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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