Es gibt Momente im Leben, da hilft nur noch Pop. Und zwar POP! im Sinne von ab!-so!-lu! an!-ti!-„Indie“, ohne die geringste Spur von Unentschlossenheit, Unsicherheit, Selbstzweifel, Fragilität, ohne einen Hauch von Sensibilität und ohne ein Atom Angst vor Fettnapf, Schwulst und dem Donnerbalken lyrischer Juvenilität – POP! für den Ferrari auf der Strada del Sole, für die Discoromanze mit der Glitzerblondbombe, die Foucault für ein Haarspray und Morrissey für eine Kleinstadt an der Adria hält. POP! für das Billigkaufhaus mit den geilen Neonteilen, für die Chipswerbung und zum Anheizen im Baseballstadion. POP!, der so schmettert, knallt und zuckt, brüllt, lärmt und schallt, daß ein Poesiealbumsprücherl wie „I didn’t know I was lonely till I saw your face“ zum Schlachtruf wird, der eine ganze Regionalversammlung der Hells Angels in die Flucht schlägt (oder zum Mitgrölen animiert).
Sie kommen unvermittelt, diese Momente, und niemand weiß, woher sie kommen und warum; vielleicht steckt dahinter das spätsommerliche Gefühl der Vergeblichkeit: Wenn schon alles sinnlos und vorbei ist, dann werde ich mich jetzt so lange zubrettern, bis ich davon nichts mehr merke und mich nicht mehr dran erinnern kann! Oder liegt’s daran, daß die Sachen, die man aus hygienischen Gründen mit Stumpf und Stiel aus seinem Leben herausgerottet hat (i. e. Radiosender, die den ganzen Tag „We Built This City On Rock ’n’ Roll“, „Confusion“ von ELO, „Walking On Sunshine“ und irgendwas von den späten Genesis oder Mike & The Mechanics spielen), doch ein Vakuum hinterlassen haben, das man gelegentlich füllen muß, damit es darin nicht zur Bildung von Dunkler Energie kommt? Oder verlangt das Unterbewußtsein danach, daß man den üblen Krach der Welt mit ihren Kriegen und Vernichtungen ausblendet, indem man sozusagen stellvertretend „Lalalalalalala!“ brüllen läßt und sich symbolisch die Ohren zuhält?
Wie auch immer: Es gibt Momente, da ist ELO der Hammer und irgendeines der fürchterlichen späten Queen-Alben großartig, da kann man gar nicht genug kriegen von den zuckrigen und zickigen Schlonzeffekten, dem Zirpen und Bickseln der Rhythmuscomputer, von bombastischen Synthiflächen, vom Womp und Pomp der Unisonochöre und Elektroorchester, vom Massivbeton der Gitarrenwände, von der amtlichen Verläßlichkeit des Wechsels zwischen erwartungsvoll schwärenden Strophen und alles niederwalzenden Hymnenrefrains.
Dann ist man einem wie Jack Antonoff dankbar. Der ist übrigens kein schlechter Kerl, ist zu High-School-Zeiten mit der Punkband Outline (nein, kenne ich auch nicht) durch Florida und Texas gezogen, hat bei Steel Train (muß man nicht kennen) und einer Band mit dem vielsagenden Namen fun gespielt, die einen Nummer-eins-Hit mit dem vielsagenden Titel „We Are Young“ hatte. Antonoff hat sein Handwerk gelernt, und wenn er ein paar Jahrzehnte früher geboren wäre, hätte er wahrscheinlich „Walking On Sunshine“, „Confusion“ und „We Built This City On Rock ’n’ Roll“ geschrieben.
Daß das Debütalbum seines neuen Projekts (das ein solches wohl insofern ist, als daran dem ersten Höreindruck nach lediglich ein Tablet und ein paar Apps, aber keinerlei menschliche Unwägbarkeiten beteiligt waren) emotional und seelisch nicht die geringste Spur hinterläßt, darf man nicht falsch verstehen, sondern als Vorzug und entscheidende Stärke: In den Momenten im Leben, in denen nur noch POP! hilft, ist es fast unschlagbar, weil es knallt, fetzt und schwärt, ohne auch nur die Erinnerung zu belasten, und dabei aber frei ist von der miefigen Käsigkeit, die die „Klassiker“ des POP!-Genres ebenso unerträglich macht wie diverse Boygroup-Bemühungen.
Yeah, es gibt so Momente, aber Obacht: In anderen Momenten drohen akute Überzuckerung und temporäre Migräne.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.