Belästigungen 18/2014: Vom Hitler, von Putin, von Hysterie und Raserei und einem möglichen Mittel dagegen

Daß der Hitler nicht der Hellste war, zeigen unter anderem seine Begründungen für die deutschen Überfälle auf andere Länder: Hätte er beispielsweise darauf hingewiesen, daß Polen 1939 von einem homophoben Despoten regiert wurde, der separatistische Rebellen in einem Nachbarland (der Tschechei) unterstützte und einen Teil davon sogar völkerrechtswidrig annektiert hatte, während er selbst fürsorglich bemüht war, dieses Nachbarland enger an den Westen zu binden, und es in der Führung seiner Partei und anderer Organisationen von Schwulen nur so wimmelte, – wer weiß, wer weiß. Statt dessen faselte der deutsche Führer wirres Zeug von „Arrondierung“ und „Ernährung“ und ließ SS-Leute in Maskerade einen deutschen Radiosender überfallen, um in holprigem Polnisch angebliche Kriegserklärungen zu brabbeln.

So geht das, wenn man nicht medienkompetent ist. Allerdings standen dem Hitler mit seinen paar notdürftig gleichgeschalteten Plärrpostillen ja gar nicht die Kompetenzmedien zur Verfügung, die man heute kennt, schon gar nicht in dieser Breite und inhaltlichen Tiefe: Die pseudo-neocon-verdoofte „Welt“ („Harte Haltung gegen Putin“) will notfalls „den Bündnisfall ausrufen“, der Boulevard schäumt („Putin: Schlimmer Wehrmacht-Vergleich“, „Putin: Sein Teufels-Plan“, „Wer hält Putin auf?“), die früher mal angeblich liberale „Süddeutsche“ („Jetzt oder nie“) greint: „Putins Ton wird immer schärfer“, der „Spiegel“ („Ende der Feigheit“) brüllt: „Stoppt Putin jetzt!“ (wohl in der Hoffnung auf einen ähnlichen Effekt, wie ihn einst die „National-Zeitung“ mit der wortgleichen Hetze gegen Rudi Dutschke erreichte), die „Zeit“ („Härte zeigen! Militärische Präsenz in Osteuropa deutlich erhöhen!“) salbadert in typischer Diktion: „Wie weit lassen wir Putin zu weit gehen?“, der „Tagesspiegel“ rät zum Kampf („Genug gesprochen!“), die FAZ will „Stärke zeigen“, und im grün-mittelständischen Witzblatt „taz“ schwelgen die Kommentatoren seit Wochen in Kriegs- und Schlachtenmasturbationen, ganz zu schweigen vom Fernsehen, wo zum Beispiel das ZDF seine Anti-Putin-Propaganda unverdrossen mit falschen Bildern untermauert, um einen russischen Einmarsch in der Ukraine zu beweisen.

Zwar flog dieser Schwindel noch schneller auf als dem Hitler sein Sender-Gleiwitz-Schabernack, aber kümmert das im nachhinein, wenn die Botschaft erst mal in den Köpfen ist, noch jemanden? Fragt heute noch jemand nach dem „Tonkin-Zwischenfall“, jenem gleichwertigen (wenn auch nicht ganz so dilettantischen) Schwindel, mit dem die USA einst ihren Krieg gegen Nordvietnam begründeten? Fragt noch jemand nach dem von den deutschen Ministern Scharping und Fischer zum Anlaß für den völkerrechtswidrigen NATO-Krieg gegen Jugoslawien zusammengelogenen „Hufeisenplan“? Interessiert sich noch wer dafür, daß es die „Massenvernichtungswaffen“ nie gab, die als Vorwand für den bereits vor dem 11. September 2001 geplanten, ebenso völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak herhalten mußten? Fragt irgend jemand noch mal nach, in wessen Auftrag am 20. Februar 2014 in Kiew Scharfschützen aus einem von der „Opposition“ besetzten Hotel auf Demonstranten und Polizisten auf dem Majdan schossen? Gibt es irgendwelche unabhängigen Informationen oder Erkenntnisse darüber, wer am 17. Juli über der Ostukraine ein malaysisches Flugzeug abgeschossen hat und warum? Wird danach in ein paar Wochen noch jemand fragen?

Ich habe nur eine ungefähre Ahnung, was sich da abspielt. Und ich mag nicht konsequent zu Ende denken, weshalb diverse Oligarchen in der Ukraine, in Polen und im Baltikum in einem vielstimmigen Panikchor von einer „massiven Invasion“ bis zu „begrenzten Nuklearschlägen“ alle möglichen Teufel an die Wand schmieren, die angeblich der russische Problembär auf sie losgehetzt hat oder in baldigster Bälde loszuhetzen plant. Es will mir aber so scheinen, als wären in dem ganzen Tohuwabohu hysterischer Hochköchelei nur extrem wenige Beteiligte bemüht, einen zumindest halbkühlen Kopf zu bewahren, und die sitzen derzeit nicht unbedingt in Washington oder Berlin – und schon gar nicht in Kiew, wo ein gewählter Stadtrat mit einer „Sozial-nationalen Versammlung“ für „die Befreiung der weißen Rasse“ kämpft, die „harte Bestrafung sexueller Perversionen und aller Kontakte zwischen Rassen, die zur Auslöschung des weißen Mannes führen“ fordert und eine der beiden Regierungsparteien das Land „von der jüdischen Mafia aus Moskau“ befreien möchte.

Ich habe bei Gelegenheit schon mal darauf hingewiesen, daß der Kapitalismus kein System ist, sondern ein Prozeß, der zwangsläufig irgendwann auf ein Gerangel um das hinausläuft, was bei James Bond so schön grimmig-verstiegen „Weltherrschaft“ hieß und heutzutage mit dem seriöseren Begriff „Weltmacht“ ebenso trefflich bezeichnet wird. Wer eins und eins zusammenrechnen kann, weiß, daß dagegen weder „Sanktionen“ noch Verhandlungen noch Militärberater noch Waffenlieferungen noch das machtrauschige Gefasel präsidialer Pastoren noch Mahnwachen, Demos und geteilte Facebookseiten etwas ausrichten können.

Vielleicht fragen wir uns statt dessen mal, wieso ausgerechnet das schöne Land Bayern (dem Größenwahn des Großen Vorsitzenden Strauß sel. zum Trotz) noch nie ernsthaft auf die Idee verfallen ist, sich zur „Weltmacht“ aufzuschwingen. Könnte es sein, daß eine andere Art von Rausch, aus der man sich elfeinhalb Monate lang mühselig wieder herauskatern muß, zu dieser Zurückhaltung zumindest beigetragen hat? Wäre es vielleicht eine Idee, sämtliche derzeitigen Konfliktparteien und ihre diversen Peripherien, Einsatzzentralen und Trabanten nicht mit Waffen, sondern mit Fässern, Zelten und Blaskapellen zu beliefern?

Das Grundproblem läßt sich so nicht lösen, freilich. Aber in wie weite Ferne dieses Grundproblem rutschen kann, wenn die Birne dröhnt, der Magen surrt und die Glieder knarren, weiß jeder, der schon mal einen seriösen Wiesnbesuch hinter sich gebracht hat, und manchmal ist das Unmittelbare eben näherliegend als hehre Philosophie (und ob die Welt überhaupt zu retten ist, diskutieren wir dann ein andermal).

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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