Menschen sind immer zu spät dran. Kaum stürmt Mitte August der alljährliche Vorherbst bzw. Viertelwinter, den jeder seit den ersten Sommerferien seines Leben kennt, mit gewohnt überraschender Vehemenz daher, hat der Mensch auch schon die Liste mit den ganzen Seen und Flüssen, in denen er heuer unbedingt mal baden mag, fertiggestellt. Blubb, denkt er sich, hm, wird schon wieder schöner.
Kaum hat sich der Mensch dann daran gewöhnt, daß nun wohl eher die Saison der Radltouren angebrochen ist, und sein altes Klappergestell endlich doch mal zum Richten gebracht, fängt es zu schneien an, und da fällt ihm ein, daß er seit dem ersten Frühlingsblinzeln jeden zweiten Tag gedacht hat: Heuer bin ich schlau und trage jeden zweiten Tag (also morgen) so viel herumliegendes Brennholz ins Haus, daß ich im Herbst nichts bestellen muß. Daß er aufgrund dieses tröstlichen Gedankens und der allgemein betäubenden Wirkung der diversen Sommerverrichtungen und weil er den wie immer unverrichtet gebliebenen Vorsätzen im Sturmgebläue des Nachsommers angemessen nachtrauern muß(te), das mit dem Bestellen ebenfalls vergessen hat und nun der Keller leer ist und die Holzpreise sich saisonbedingt verdreifacht haben, versteht sich irgendwann um die Weihnachtszeit herum von selbst.
So geht es ihm mit allem, dem Menschen. Der Vogel sieht, wie ein Wurm unvorsichtigerweise seinen Hintern aus dem Boden reckt, und ehe er noch denken kann: „Oho! Den werde ich mir bei nächster Gelegenheit schnappen!“, ist der Wurm schon ins Gekröse verleibt und der Zufallsblick auf die nächste vorwitzige Made gerichtet. Der Mensch hingegen schreibt sich allerhöchstens einen Alibitermin auf, den er Anfang Januar beim Übertragen der Geburtstage in den neuen Kalender wiederfindet, mit einem nostalgischen Weh im Oberbauch und dem Gedanken „Ach ja! Diesmal aber ganz bestimmt!“ bedenkt und wieder vergißt.
So geht das Leben dahin als Perlenkette verpaßter, vergessener, versiebter und verschobener „Dann“- und „Nächste Woche“-Erlebnisse und Begegnungen mit Menschen, die einem pfeilgrad in den Sinn kommen, wenn man erfährt, daß sie wegziehen, heiraten oder gestorben sind. Und dieser Mechanismus ist dermaßen ins genetische Grundprofil des Homo sapiens eingeprägt, daß er sich kollektivpolitisch ebenso vehement durchsetzt. Zum Beispiel wenn der sogenannte christliche Westen wähnt, er könne die Folgen seiner Versuche, den vorderen Orient durch zügellose Massaker und Zerstörungsfeldzüge dem heiligen Schoß seiner Kirche (die den Beinamen „Wirtschaft“ trägt) einzuverleiben wie der Vogel sich den Wurm, wiedergutmachen oder aus der Welt schaffen, indem er tausend Jahre später Panzer, Raketen und Maschinengewehre dorthin exportiert.
Oder zum noch umfassenderen Beispiel indem er just in dem Augenblick, wo ihm klar wird, daß er allen Warnungen zum Trotz seine eigene Lebensumwelt dermaßen zerspreißelt und vernichtet hat, daß nichts mehr zu retten ist, „Klimakonferenzen“ veranstaltet, zu denen Blablagesandte sämtlicher Weltgegenden mit Düsenjets eingeflogen werden, und sich einen Plastikaufkleber mit der Weissagung der Cree („Erst wenn der letzte Baum …“) auf den Kofferraum bappt.
Wahrscheinlich ist das alles halb so schlimm. Wahrscheinlich sollte man sich mit der Erkenntnis abfinden, daß alles immer eh und sowieso zu spät ist, kommt und auffällt. Aber auch das ist ein menschliches Naturgesetz: Im augustischen Vorherbst verschwimmt der innere Blick, löst sich von der Gegenwart, streift ziel- und zwecklos durchs Gestrüpp des Vergessenen und Unangeknüpften. Und weil das wohl jedem so geht und jeder sich dann wehmütig an eine romantische Begegnung vor drei, fünf, vielen Jahren erinnert, als deren Fossil immer noch ein Telephonnummernzettelchen an der verstaubten Pinwand hängt oder eine Uralt-SMS im viertletzten Handy herumschwebt, – wahrscheinlich deswegen packt einen periodisch der Wahn, die Welt retten zu müssen: Weil sie sich derweil und seitdem so gründlich und total und unbemerkt verändert hat, daß man sich nicht mehr darin zu Hause fühlt.
Wo ist die Kneipe hin, wo man damals den verträumten Blick der wundersüßen Braunhaarigen eingefangen hat, die man unbedingt bei nächster Gelegenheit wieder suchen und finden wollte, um fürderhin in Liebe und Glück zu leben? Worum ging es in dem Buch, das man vor ewigen Zeiten aufgeschlagen auf Seite 142 neben das Sofa gelegt hat und beim spätsommerregenbedingten Wohnungsputz unter einem Staubteppich wiederfindet? Egal, es gibt dringendere und drängendere Menschheitsprobleme! Verbringen wir lieber den Nachmittag damit, Petitionen zu unterzeichnen und Kettenmails an Bundeskanzlerinnen zu versenden!
Ich weiß: All diesen Gedankengängen entspringt und entsprießt nichts als ein bläuliches Wölkchen der Erkenntnis, das gleich wieder zerstiebt und neuen Wichtigkeiten Platz macht, die aufgeschoben und verdrängt werden müssen. Aber genau deshalb bitte ich um Vergebung, daß ich heute all die wichtigen Dinge, von denen man mir mit der Bitte und Aufmerksamkeit und Engagement berichtet, vergessen muß, um den inneren Blick verschwimmen zu lassen und eine Telephonnummer zu wählen, von der ich gar nicht weiß, ob es sie noch gibt, und eine Uralt-SMS zu beantworten, bevor das viertletzte zum fünftletzten Handy wird und die Absenderin wegzieht, heiratet oder stirbt und ihren verträumten Blick für immer mit sich nimmt …
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.