Ich habe einen nicht geringen Teil der letzten Wochen damit verbracht, sämtliche Folgen dieser Kolumne für die ersten vier Bände einer neuen Buchausgabe durchzuschauen und zu überarbeiten. Bei einer solchen Tätigkeit gerät man nicht selten in eine Art autogene Fremdscham („Das soll ich geschrieben haben? Weia weia weia!“), vor allem aber kommt man nicht darum herum, Defizite und Unausgewogenheiten im eigenen Wortschatz zu konstatieren.
Zum Beispiel erscheint die Vokabel „Kapitalismus“ derart häufig, als hätte es mir irgendwann in den Neunzigern eine Zentnerpackung davon in den Händen zerrissen. Darüber hinaus wurlt es nur so vor Neologismen, die meine Deutschlehrer zum kollektiven Fenstersprung veranlaßt hätten, vom Zerzilpen bis zum Glitzen, vom Schwommel bis zum Pfanz. Hingegen: nicht ein einziges Mal der durchaus gängige deutsche Begriff „Harnröhre“. Dabei sind wir Menschen mit dem dazugehörigen Gegenstand mehrmals täglich konfrontiert, zumal zu Sommerszeiten, wo man titanische Kübeleinheiten an Kaltgetränken in sich hinein- und nach Eintritt der beabsichtigten Wärmeaustausch- und Rauschwirkung wieder hinausbefördern muß.
Na gut, meinetwegen geschieht dies unbewußt, wie in einer idealtypischen 21st-Century-Zweierkiste, wo man ja auch nicht mehr weiß, mit wem man da eigentlich wochenends durchs alpine Freizeitressort rödelt und dabei die Besteigung der Praktikantin aus dem Nebenbüro imaginiert. Das gilt indes für mancherlei: Wem wäre denn, während er seinen gesamten Tag an öden Arbeitsplätzen, auf öden Autobahnen, in öden Supermärkten, mit der Betrachtung öder Fernsehprogramme und Internetseiten sowie notfalls auf, unter, über, hinter öden Praktikantinnen verbringt, in jeder Sekunde bewußt, daß daran der Kapitalismus schuld ist?
Eben. Und deswegen wundert mich das. Und während mich das wundert und ich ansonsten gänzlich unbewußt mit dem Fahrrad durch den Münchner Norden flaniere, fällt mir in der Außenreklame eines örtlichen Supermarkts ein neues Wort auf, das ich noch nie gehört habe und das sich mit dem Begriff „Harnröhre“ in einen nicht uninteressanten Zusammenhang bringen läßt: „Mehrweggetränke“.
An einem idyllisch schönen Montag mag ich mir nicht vorstellen, wie so etwas funktioniert. Gibt es dafür Tanks? Ebensowenig möchte ich wissen, was es mit den „Probierwochen“ auf sich hat, mit denen ein internationaler Rindviecherzerwolfungskonzern derzeit tausendweise auf Plakatwänden renommiert. Gibt es neuerdings Wochen, die man bei Nichtgefallen einfach wieder zusammenfalten und auf den Tresen knallen kann: „Taugt nichts, der Gammel! Eine neue her, Dienstleister!“? Werden die dann an jemand anderen weiterverscherbelt, der nicht so anspruchsvoll ist? Oder bezieht es sich nur auf die „Produkte“ der Fleischsemmelfabrik, die man während dieser Zeit keinesfalls schlucken, sondern lediglich anmampfen darf und dann wie bei einer Weinprobe in vorbereitete Tröge speien muß?
Fragen über Fragen, allesamt gänzlich unbewußt wie eine Harnröhre und dennoch drängend, wenn man gerade nichts anderes zu tun hat als die Stadt zu betrachten, die an einem vorbeiparadiert, während das Fahrrad fröhlich zwitschert, als wäre es froh, daß die Schmierölprobierwochen wieder vorbei sind und es frohgemut weiterrosten darf.
Solche Wörter sind komisch, weil man sie normalerweise nie ausspricht, nicht mal denkt und auch nicht liest (weil hierfür zuständige Menschen wie ich sie nirgends hinschreiben – schrübe man sie hin, wären sie nur noch komisch, wenn man sie zehnmal hintereinander sagt, wie zum Beispiel „Scheidplatz“, ein todsicherer Stammtischbrüller). Das läßt sich ändern: Zum Beispiel könnten wir die Blödianbegrüßung „Hallo“ (ein Alarmruf, der dazu dient, Aufmerksamkeit zu erregen) versuchsweise und zumindest in Schickiklamottenoutlets und Nobelbiomüsliboutiquen durch ein herzhaftes „Harnröhre!“ ersetzen und nach Eintritt der Verblüffungspause fortfahren: „Möchten Sie ein Mehrweggetränk? Ich hätte gerade eines bei mir! Probierwochen!“
Manchmal wiederum gerät man beim müßigen Radflanieren in Stadtbereiche hinein, wo man zwar schon mal, aber offenbar lange nicht war, weil sie plötzlich komplett anders aussehen als früher und auch anders, als Stadtteile in einer Stadt aussehen sollten, die man mag. Die werden dann verkauft, mit schlagenden Argumenten. Zum Beispiel steht man hinter dem Hirschgarten, wo ohnehin ein ganzes Areal vollgekippt worden ist mit weißen Zementwohnschachteln, unversehens vor einem Turm, der aussieht wie ein zu Plastikkotze geronnener Alptraum von Perry Rhodan, und erfährt dazu, dort gebe es für knapp 7.000 Euro pro Quadratmeter einen „zentralen Funktions-Cube“ und eine „Storage-Einheit“ für „Intelligent Wohnen“ sowie einen für „Service-Leistungen“ zuständigen „Keeper“, den man über eine „Friends-App“ buchen könne.
Da ist man erst mal baff, radelt ein paar Ecken weiter und ist froh, daß einen von dort nicht gleich der „Keeper“ verjagt, weil die zuständige Immobilienverwertungsfirma unter dem gleichfalls schlagenden Motto „Werte durch Luxus“ folgendes Szenario sich entfalten läßt: „Vor der griechischen Taverne treffen sich ein paar Jugendliche mit ihren Vespas. Die Jungs, alle gescheitelt und mit klassischen Sonnenbrillen auf der Nase, sehen aus wie aus einem Katalog. Es scheint, als wissen (sic!) sie das. Also stehen sie rum, quatschen, trinken Spezi – und sehen gut aus an diesem herrlichen Frühlingstag. Nach ein paar Minuten düsen sie zurück in die Privatschule, ein (sic!) moderner (sic!) Bau am Ende der Volpinistraße. Nun ist es wieder ganz ruhig. Aus dem Hintergrund tritt (sic!) wieder Vogelgezwitscher.“
So soll es zukünftig zugehen unweit vom „quirligen“ Rotkreuzplatz, wo jetzt noch ein „wenig ansehnlicher“, womöglich gar von Menschen bewohnter „Hausbunker“ steht. Und da stellen wir doch vorsorglich gleich mal den Antrag, ganz Nymphenburg in „Harnröhre“ umzubenennen und vom Keeper (es muß ja nicht Manuel Neuer sein) mit Mehrweggetränken versorgen zu lassen.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.