Belästigungen: Das eine, einzige Leben, ertrunken in Rührei und Federn

Neulich saß ich mit einer lieben Freundin zusammen, die für den folgenden Tag ein Vorstellungsgespräch vereinbart hatte. Es ging um eine grundsätzlich sehr attraktive Stelle; dennoch meinte sie, am liebsten ginge sie gar nicht hin, weil sie sonst am Ende dort arbeiten müsse und sich nicht sicher sei, ob sie das überhaupt noch wolle, dieses Arbeiten.

Wir saßen unter einem Baum, die hellblaue Luft flirrte von der freudigen Erwärmung nach dreizehn oder fünfzehn Eisheiligen, im Krug schimmerte gülden das Malzgetränk, allenthalben herrschte Frohsinn, weil hier – abgesehen von den Biergartenangestellten, die müßig ratschend durch die Reihen schlurften und hie und da einen leeren Teller einsammelten – niemand arbeitete.

Kein Thema bestimmt das Geplapper des Menschengeschlechts so hegemonial wie dieses, vor allem in Zeiten, da mal wieder irgend so ein Parlament zusammengewählt werden soll. Armut, Elend, obszöner Reichtum, Krieg, Folter, die inzwischen so gut wie vollständige Vernichtung von Natur und Umwelt – alles eitler Pipifax gegen das, was rechtsliberale und neokonservative Medien wie taz und FAZ gerne auf den reißerischen Nenner bringen, die gesamte Jugend in Europa sei „ohne Job und Perspektive“. Wie schauderlich!

Eine andere Freundin habe ich seit Jahren nicht gesehen, obwohl wir in derselben Stadt leben. Sie nämlich, teilt sie mir hin und wieder auf elektronischem Wege mit, täte mich zwar gerne mal wiedersehen; geht aber nicht, weil sie eine Perspektive hat: Sie „muß“, d. h.: „will“ arbeiten, weil das, was sie arbeitet (irgendeine digitale „Dienstleistung“), sie mit Sinn, Glück und Erfüllung erfülle. Zwar sei sie nach „Feierabend“ (falls ein solcher eintritt, weil das Handy kaputt oder Facebook abgestürzt ist) oft sehr erschöpft und frustriert, depressiv und einsam. Aber, so vermute ich, diese Erschöpfung, Frustration, Depression und Einsamkeit fließen halt nur so über vor Sinn, Glück und Erfüllung, und zur Not haut sie sich eben vor der Glotze, die die aktuellen Statistiken zu Arbeit und Wachstum verkündet, einen Prosecco rein.

Eines Tages werden wir uns schon wiedersehen, meint sie, und reden, spazierengehen, lachen, Musik hören, Sex haben, feiern, was man halt so tut im Leben. Das meinte ein anderer Freund auch, der vor drei Jahren gestorben ist, ohne daß wir uns seit dem Studium wiedergesehen hätten. Die ganze Perfidie der perversen Arbeitsreligion läßt sich kaum besser auf den Punkt bringen als mit der Feststellung, daß das für ihn jetzt keine Rolle mehr spielt und er es zuvor tatsächlich ehrlich glaubte, viele Jahre lang, so wie er an ein unendliches Wachstum glaubte, obwohl er nach drei Sekunden Nachdenken einsehen hätte müssen, daß er sein Leben auf einen Sanktnimmerleinstag verschob und unendliches Wachstum absolut unmöglich ist.

Arbeit, hat man mir erklärt, erfülle in erster Linie einen sozialen Zweck. Das ist so eine Art Notfallausrede: Weil inzwischen jeder zumindest ahnt, daß 99 Prozent aller Arbeit vollkommen überflüssig sind und Arbeit die Ursache von (u. a.) Armut, Elend, obszönem Reichtum, Krieg, Folter und der Vernichtung von Natur und Umwelt ist, meint man, das sei ja ganz egal; schließlich gehe es darum, ein Grundbedürfnis des Menschen zu stillen – gemeinsam mit Mitmenschen etwas zu leisten und einen Erfolg zu erzielen.

Mag sein. Wieso muß es dann aber eine digitale Dienstleistung, ein Monsterauto oder ein innovativer Joghurtdrink sein? Wieso ziehen die Menschen nicht los, reißen irgendwo ein Factory Outlet ab, harken die Krume, säen das Korn, pflücken Obst, versammeln sich in der Dämmerung ums Lagerfeuer, singen fröhliche Lieder, erzählen sich Geschichten und lächeln angesichts der gemeinsam eingebrachten Früchte ihrer müßigen Mühen selig in den Nachthimmel?

Weil das unrealistisch ist? Genau. Und wenn man einem beliebigen Bewohner des frühen 18. Jahrhunderts vom Nazifaschismus erzählt oder ihm ein Bild der Verwaltungszentrale eines modernen Weltkonzerns (oder der Frankfurter Skyline) vorgelegt hätte, dann hätte der das ohne Zögern für absolut realistisch befunden. Ein Leben ohne iPad, Twitter, Konsumkredit und Spülmaschine, hätte er begeistert eingeräumt, sei tatsächlich fast undenkbar, und daher werde das Streben seiner und der zehn folgenden Generationen rückhaltlos dem Ziel dienen, das Burnout-Paradies des 21. Jahrhunderts herbeizuführen, in dem die gesamte Sozialität des Menschen auf die gemeinsame Erstellung eines innovativen Joghurtdrinks zusammenschrumpelt.

Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, in der kein Angehöriger meiner peer group einen Job hatte. An Perspektiven hingegen mangelte es uns nicht; viele davon beruhten auf den idyllischen Szenarien in Carl Barks’ Donald-Duck-Geschichten (in denen, sobald jemand zu arbeiten anfing, Semmeln, Fabriken und Berge explodierten, ganze Städte in Rührei und Federn ertranken und generell alles in Klump und Asche fiel), Rock-’n’-Roll-Songs (der absoluten Antithese zu jeglicher Form von Arbeit), Asterix-, Lucky-Luke- und Science-fiction-Heften sowie Büchern von Schatzinseln, Piraten und Huckleberry Finn. Was wir daraus über Arbeit lernten? Daß man das Leben, weil es kurz ist und es unendlich viel zu erleben gibt, so weit wie nur möglich davon freihalten muß.

Heute: strömen die Menschen zu den Arbeitsstätten wie einst in die Kirchen, hoffen auf Erlösung durch Fleiß und Überstunden und haben die Frage vergessen, in welchem Jenseits ihnen diese zuteil werden soll. Wer keinen Arbeitsplatz hat, sitzt seine Lebensstunden in plastikmöblierten Ämtern, demütigenden „Kursen“ und sinnlosen Ersatzbeschäftigungsdiensten ab. Und derweil gilt der sehnsüchtige Neid aller, die dem Wahn verfallen sind, den Ungläubigen, die sich dem Kreuzzug zur Vernichtung des Lebens und der Welt entziehen – denen, die durch anderer Arbeit reich genug sind (die bewundert man), und jenen, die einfach keine Lust haben (die haßt man).

Das, fanden wir anderntags unter einem anderen Baum, ist wie jeder religiöse Fanatismus dermaßen widersinnig und irr, daß man gar nicht erst versuchen sollte, es zu verstehen. Schließlich haben auch wir nur ein Leben.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen