Frisch gepreßt #314: Leon Russell „Life Journey“

Als der Gott des Bluesrock einen Felsen suchte, auf dem er seine Kirche errichten konnte, fand er Claude „Leon“ Russell Bridges und suchte nicht mehr weiter. Die Kirche steht bis heute an der 3rd Street in Tulsa, Oklahoma, trägt den Namen Church Recording Studios, und dass die konfessionelle Zuordnung zur Sekte der Heiligen, Apostel und Jünger des Bluesrock Leon Russells irdisches Schaffen bei weitem nicht vollständig er- oder gar umfasst, zeigt die Liste der Musiker, die dort mit Russell ihre eigenen und immer wieder dessen Songs aufnahmen, mit ihm tourten und ihn von anderswo herbeiriefen, auf dass er sie segne, heile oder rette.

Mit einer vollständigen Aufzählung ließe sich das vorliegende Heft füllen, drum greifen wir halbzufällig hinein in die Masse, nennen mehrere Ex-Beatles, die Rolling Stones, Bob Dylan, Willie Nelson, Joe Cocker, die Carpenters, J. J. Cale, Doris Day, Gram Parsons, Ray Charles, Eric Clapton, Jan & Dean, Byrds, Beach Boys, Jerry Lee Lewis, Phil Spector, Frank Sinatra, B. B. King. Fügen wir hinzu, dass all dies Jahrzehnte her ist, es Leon Russell jedoch gelang, noch 2010 gemeinsam mit der ewigen Ulknudel Elton „Es kann nie genug schlechte Songs geben, drum schreibe ich jedes Jahr zehn neue“ John eines der zertifiziert besten Alben des Jahres aufzunehmen.

Fragen wir uns, wie all das sein kann, wie es geschehen konnte, dass manche von Russells Song in bis zu vierzig Versionen die Hitlisten der USA und anderer Länder bevölkerten, dass viele weltberühmte Superstars ihn als Heiligen oder gar gleich selbst als Gott verehren, und nennen wir ihn zur Antwort schlicht den Urquell der längst multikulturell internationalisierten amerikanischen Musik.

Fügen wir hinzu, dass viele auch in dem Menschen Leon Russell eine Ikone, ein Ideal und Idol sehen, den klassischen freewheelin’ Hobo, libertären Freigeist, prototypischen Hippie, das einzig unverbrüchliche Leitbild einer längst verwehten Gegenkultur, und stellen wir all das nicht in Frage, weil zwar nichts je ist, was es scheint, aber Leon Russell vielleicht noch am ehesten. Wer behauptet, nie einen Song von ihm gehört zu haben, lügt. Wer nicht zumindest seine frühen Platten kennt, schätzt, liebt, versteht wenig von Musik. Wer meint, die USA wären ohne ihn heute nicht ein (noch) viel schlimmerer Ort, verkennt die Historie.

Wozu nimmt ein solcher Mann in nicht unbedingt mehr popmusikkompatibelstem Alter 2014 ein neues Album auf? Diese Frage ist leicht zu beantworten: weil er es kann und muss. Weil es in ihm immer noch glüht, raucht und brennt, weil seine unfassbar anrührende, packende, wundervolle Schmirgelstimme mit jedem Jahr ein Stück reifer und besser wird, weil die Songs einfach drin sind in seiner Seele, seine Seele sind, diese unsterblichen Lieder von Paul Anka, Hoagy Carmichael, Eddie Cooley, Duke Ellington, Robert Johnson und vielen anderen, die ihn auf der Reise seines Lebens bis heute geleitet und begleitet haben.

Deshalb setzte er sich mit dem ebenfalls reichlich legendären Produzenten Tommy LiPuma zusammen und spielte sie ihm vor, und der empfahl ihm ein paar weitere, ließ die Bänder laufen, holte den Bassisten von Count Basie, ein paar Bluesrock-, Dixieland- und Jazz-Urfelsen sowie eine ganze Big Band dazu, die den bescheidenen Mann erzittern ließen und die Flamme in ihm derart schürten, dass man streckenweise fassungslos lauscht und sich bei Balladen wie „Think Of Me“ und „I’m Afraid The Masquerade Is Over“ in Gänsehäuten geradezu wälzt. Durch diese Aufnahmen fließen Milch und Honig, in ihnen schlägt ein altes, weises Herz, das dennoch, wenn es lauter wird, noch immer überströmt vor Sehnsucht, Leidenschaft, Sex.

„Ich nähere mich dem endgültigen Ziel meiner Reise“, schreibt Leon Russell in seinen Anmerkungen zu diesem Album, mit dem er trotzdem unverdrossen auf Tour gehen möchte, und zwar in Riesenbesetzung samt Orchester. Vor zwei Wochen hatte er Geburtstag. Wir sollten ihm noch mal 72 gesunde Jahre voller Musik wünschen, wenn das nicht gar so vermessen wäre. Aber vielleicht hat der Gott des Bluesrock ja ausnahmsweise ein Einsehen.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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