Frisch gepreßt #313: Lucius „Wildewoman“

Wohin er auch sich entwickelt, der Mensch, stets und stetig bleibt er der Vergangenheit verhaftet, verklebt und verwoben, weshalb sein tiefsitzender Drang nach Neuem, nach Weiterbildung, Ausformung und Ablegerablegung wohl nur ein Ausgleichsbemühen ist, weil tief in ihm die Sehnsucht nach ersten Malen und Augenblicken brennt.

Wir rollen die esoterische Tischdecke wieder ein, weil darunter das alte Holz seine Maserung darbietet, die Scharten und Schnitte und Kratzer und die Mitgenommenheit der Jahre seit … Hach! brüllt Doktor Weißichschon: die Blonde vom Autoscooter, ja ja! Ich weiß noch!

Nur weiß es außer ihm keiner, weil in jedem Kopf ein eigener Autoscooter seine Spirographmuster dreht (weshalb dem Autor dieser Zeilen das Wort „Spirograph“ aus derartiger Entfernung und Tiefe plötzlich wieder in den Sprechschreibapparat gerutscht ist, weiß hingegen kein Mensch außer Frau Warschonimmerda-Binsnoch, deren Lächeln als zuverlässiger Wegweiser durch die tiefsten Dunkelheiten wirkt). Da leuchten Farben, dräuen Gewitter, winken Erstverliebtheiten, schaumduften Marshmallows, prangen Brüste, strahlen südkalifornische Täler, brüllen rasende Kellerclubs, lächeln Augenwinkel, duften zarte Berührungen, brausen und pludern Klassenparties, kreiseln Rauchfähnchen, dämmern güldene Sommerabende, deren Güldenheit zu 99 Prozent daher rührt, daß sie die jeweils ersten und zugleich letzten waren und niemals wiederkehren. Außer in jenem Bereich knapp unter dem Kopf, wo das Gemüt und die Sehnsucht wohnen.

Dorthin und dort stechen und stochern Frau Wolfe und Frau Laessig – nennen wir sie Jess und Holly, um weitere Quellen verwehter, nie zu stillender Sehnsüchte zu öffnen –, deren Einzigheit und Fähigkeit darauf beruht, daß ihre Seelen weiße Blätter sind, flatternd im Sturm der tobenden Reminiszenzen, die ihre weichen Hände immer dann kokett zurückziehen ins Nirgendwo, wenn man meint, sie greifen zu können. Lucius heißt ihre Band, über die (Schrecken aller Musikjournalisten, die stets vergleichen, deuten und herleiten müssen) nichts zu sagen ist als: Berklee School of Music besucht, kennengelernt, ab und zu als Lucius aufgetreten, nach Brooklyn gezogen, dort die anderen drei getroffen. Na gut, wirft Herr Kannschonsein ein, das kann schon sein, ist ja auch erst eineinhalb Jahre her, nicht wahr.

Da lächelt Frau Warschonimmerda-Binsnoch mit der ganzen Weisheit ihrer unergründlich ewigen Jugend: Alles wohnt in allem, weiß sie; und daß das Debütalbum von Lucius den einen an die Sechziger, den nächsten an die Siebziger, den dritten an die Achtziger und tausend andere an tausend Klassenparties, Gewitter, Erstverliebtheiten, Täler, Kellerclubs, Rauchfähnchen, Augenwinkel, Marshmallows, Brüste, zarte Berührungen und güldene Sommerabende erinnert, liegt einfach, schlicht und nur daran, daß Lucius nichts von alldem wissen, alles neu erfunden haben, wie es tausende und abertausende Generationen vor ihnen getan haben. Stets in dem unverwüstlichen gewissen Wissen: Niemand vor uns hat das je erlebt!

So entwickelt er sich, der Mensch: stets zurück, stets nach vorne, stets im Kreis und immer weiter. Was gestern gut war, ist heute besser. Was morgen schön ist, wird an gestern erinnern, und was gestern schön war, erblüht im Morgen.

Liebe Leute, sagt Frau Liebeleutehörtaufmich, hört auf mich: Wenn ihr euch nächste Woche verliebt (es ist die Woche, die statistisch betrachtet am besten dafür geeignet ist), legt dazu „Wildewoman“ auf. Und wenn ihr schon verliebt seid, seit letzter Woche, dann tut das erst recht. Ihr werdet es ein Leben lang nicht bereuen, sondern euch danken.

Und dort, ganz hinten in der Ecke, wo sich die Welt öffnet und die Luft rosaviolett und weit wird, dort lächelt Frau Kommdoch und sieht aus, als sagte sie: Komm doch. Aber das sieht man nicht genau, weil es so strahlt, das rosaviolette Licht. So entwickelt er sich, der Mensch, so bleibt er verhaftet, verklebt und verwoben und kann doch nur so: schweben, fliegen, ewig und immer, getragen von weichen Händen und Stimmen und einem Stück Sonne. Ein erstes Mal.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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