Frisch gepreßt #309: Nina Persson „Animal Heart“

Wie, wann und warum aus temporärer Verknallung Liebe wird, ist eine komplizierte Frage. Wahrscheinlich irgendwas mit Gewohnheit, die neben Langeweile, Neugier und Dummheit eine der wichtigsten Motivationsquellen unseres gesamten Handelns, Denkens und Fühlens ist. Man gewöhnt sich an fast alles, vom eigenen krummen Zehennagel bis zum nächtlichen Piepsgeräusch eines anderen Menschen, den ein Zufall (noch so ein Faktor, s. o.) an den Strand der Lebensinsel geschwemmt hat: Irgendwann verwächst das Fremde mit dem Eigenen und wird eins.

Es braucht sich aber nur ein Detail zu ändern und ein dringlicher Vorfrühling hinzuzukommen, schon verschwören sich Neugier und Überdruß (vgl. Langeweile) und machen das ganze Strandgut zum Fremdkörper, den man ausgraben, abtrennen und möglichst spurlos verschwinden lassen möchte, wofür es scharfe, üble, verzweifelte Vorgehensweisen gibt. Zurück bleibt ein vages Schwummern, weil man sich an Gefühle nur auf der Schwelle zwischen Traum, Rausch und Deja-vu erinnern kann.

Das alles soll uns nicht weiter interessieren, weil es jeder kennt und niemand erklären kann. Eigentümlich wird die Sache erst, wenn sich die Verknallung und der folgende Verwachsungsprozeß auf ein einziges Detail beschränkt und alles andere ausblendet oder gar nicht wahrnimmt. Zum Beispiel eine Stimme. Zum Beispiel die Stimme von Nina Persson, die zum Beispiel mich an einem trüben Oktobertag 2005 mit solcher Vehemenz überwältigt hat, daß die üblichen Bilder von Tornados, Fluten und Feuerstürmen nicht im Ansatz zur Allegorisierung hinreichen. Nach wenigen Minuten war mir durch und durch klar: Ohne diese Stimme wollte, konnte, durfte ich nicht mehr leben, und daß ich mich mit einem anderen Menschen und dessen nächtlichen Piepsgeräuschen verwachsen durchaus zumindest wähnte, spielte dabei und insgesamt nicht die geringste Rolle.

Dabei kannten wir uns längst, jahrelang, waren uns sogar schon mal in echt begegnet, ohne daß sich da mehr ergeben hätte als eine gewisse, angenehme, nicht weiter erhebliche Sympathie. Mag auch sein, daß die Situation eine Rolle spielte – man ist manchmal empfänglicher für so etwas als anderswann. Aber das war mir wie allen Verliebten und hinfort Liebenden vollkommen egal. Egal auch, daß der verwachsene Echtmensch irgendwann ausgegraben und abgetrennt wurde und spurlos verschwand, wie das Echtmenschen halt tun. Andere kamen und verschwanden auf selbige Weise, ohne viel zu hinterlassen, höchstens ein gelegentliches, anflugweises Schwummern; aber die Stimme von Nina Persson auf „Super Extra Gravity“ blieb und bleibt und veredelt jede Situation, die sie mit mir teilt, zur silbern bestrahlten, golden strahlenden Erinnerung.

Seltsam, so was. Es ist ja nämlich nicht so, daß Nina Perssons Stimme nicht Fehler gemacht hätte, zuvor und seither, und weiterhin Fehler machen würde, mit Sicherheit. Aber Liebe setzt zum Glück die Vernunft außer Betrieb und erzwingt bedingungsloses Verzeihen (weil sie sich sonst selbst außer Betrieb setzt, aber solche Feinheiten sollen uns jetzt nicht weiter interessieren). Man leidet mit, freilich, nimmt die Verzettelung in Belanglosigkeiten ebenso hin wie eine halbscharige Vorgeschichte und plumpsende Ausrutscher: Der Kern, von dem alles ausgeht und an dem alles hängt, bleibt unberührt.

Geduld gehört auch dazu. Seit „Super Extra Gravity“ hat die Stimme von Nina Persson wenig getan: kein neues Album mit den Cardigans, ein hübsches Duett mit den Manic Street Preachers, ein paar Belanglosigkeiten mit A Camp, ein halber Ausrutscher mit Dangermouse und Sparklehorse – nichts, dessen Jahreszahl an dritter Stelle „1“ lautete. Eigentlich ist das egal. Die Sucht, von Schönem immer mehr haben zu wollen, statt das Leben mit dem zu füllen, was man hat, endet oft im Wahn. Aber die Neugier (s. o.) ist ein schlimmer Verführer …

Ich gebe zu: An „Super Extra Gravity“ kommt „Animal Heart“ nicht heran. Aber es kommt auch kaum etwas, was die Stimme von Nina Persson zuvor und danach gemacht hat, an „Animal Heart“ heran, und endlich, endlich klingt sie hier wieder so, wie sie klingen muß: schwer, tief, schwerelos schwebend, leicht verletzt und leicht gezeichnet, melancholisch stolz, ewig weise und naiv, alles erfüllend und durchsichtig schimmernd, groß und bescheiden, traurig, hilfreich, einsam und vertraulich … ach, Worte. Ich kann nicht versprechen, daß jeder oder auch nur jemand, der dieses Album hört, erlebt, was ich an jenem trüben Oktobertag 2005 erlebt habe. Aber einen Versuch ist es wert.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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