Belästigungen #428: Horrorcrash: Bulldogfräser tot! („Hä?“)

Eines der wichtigsten Wörter, habe ich neulich erfahren, ist „Hä“ – und zwar nicht das „Hä“, das ertönt, wenn man auf einem ostniederbayerischen Gemeindefasching dem Vorsitzenden der örtlichen Traktorfriseurinnung (vulgo: „Bulldogfräser“) aus Versehen die Zigarette in den Hemdkragen fallen läßt. Dieses „Hä“ ist nur ein Warnsignal, daß keine Zeit mehr bleibt, sich ein Taxi zu bestellen.

Das wichtigere „Hä“ zieht ein Fragezeichen nach sich – und zwar nicht das übliche, grazil geschwungene Fragezeichen, das gerne mit Worten wie „Wie bitte“ flirtet, sondern eines von der Anmut der ostniederbayerischen Bulldogfräsertochter: Wenn die das brabbelnde Geplärr überhaupt nicht mehr stoppen kann, schmeißt man ein solches „Hä?“ dazwischen und bringt den Schwall zum Kollabieren.

Drum übrigens ist das „Hä?“ eine der ersten kommunikativen Handlungen, derer ein Kleinkind fähig ist: Weil Mama oft allein ist, plappert sie gerne wirres Zeug vor sich hin, imaginiert dabei Babylein als Ansprechpartner, und wenn dem das Tutsi-tutsi-bitsi-batsi-Theater zu viel wird, platzt ihm das „Hä?“ von selber aus dem Mund, freundlich noch, aber schon in der Gewißheit, daß den meisten Erwachsenen statt einem Hirn eine Rassel unter der Schädeldecke gewachsen ist. Hunden geht es übrigens ähnlich, daher die Erfindung des Bellens, das nichts anderes als ein artikulatorisch angemessenes „Hä?“ darstellt.

Bisweilen genügt dafür ein scheinbar lautloser Ansprechpartner. Zum Beispiel tapste ich kürzlich auf dem Weg zu einem Rendezvous mit meiner Kaffeekanne an einer aufgeschlagenen Ausgabe der sogenannten „Abendzeitung“ vorbei, die irgend jemand aus unerklärlichen Gründen auf dem Küchentisch liegengelassen hatte und die mir mit wuchtigen Lettern entgegenschrie: „Horrorcrash: Deutsche tot“.

Freilich: Daß der Crash eines Tages kommt, weiß ich, seit ich als Teenager in „Grenzen des Wachstums“ geblättert habe – wenn’s so weitergeht, geht es irgendwann nicht mehr weiter, sondern wumms. Aber so plötzlich? und mit einer solchen regionalen Trennschärfe?

Spontan wollte ich eine Rundmail nach Afrika schicken: Die Deutschen sind weg, Kumpels, ihr könnt kommen! Andererseits ist Armutsmigration – das wissen wir aus den Zeiten der Völkerwanderung, als große Teile der ostniederbayerischen CSU und anderer Vertriebenenverbände hierher geschwappt sind – eine aufwendige Sache; zudem wird aufgrund einer rätselhaften Erd- und „Bild“-Strahlung jeder zweite, der sich auf deutschen Boden begibt, über kurz oder lang zum Nazi. Und dann ist es ja so, daß ohne deutsche Entwicklungshilfe in Form von Pipelines, Tötungsgerät und gefrorenem Hühnerklein Afrika in absehbarer Zeit bewohnbarer sein könnte als unsere vergifteten Betonwüsten.

Und wer glaubt schon der „Abendzeitung“? Tatsächlich stellte ich bei einem Rundgang durch Schwabing fest, daß die Deutschen alles andere als weg waren, sondern nach wie vor emsig damit beschäftigt, den Crash, der offenbar doch noch nicht eingetreten war, herbeizuführen. Und zwar im gleichen Habitus wie gewohnt: graugesichtig, mißmutig, eingepanzert in ihre Blechrüstungen und stets mit einem bösen Wort auf den Lippen für den, der seinen Geist und Körper dem gesamtkollektiven Prozeß der Wachstumserzeugung entzieht.

Nämlich konnte ich mich einer gewissen Erleichterung nicht erwehren, bestellte in einem Straßencafé ein Bier, trank und rauchte fröhlich lächelnd – und wurde überschwemmt mit bösen Blicken, weil ich ostentativ nicht tat, was man zum Zwecke der Wachstumserzeugung in erster Linie tun muß: sich um jeden Preis gesund, fit und tauglich erhalten, bis man eines Tages (idealerweise mit Erreichung des Rentenalters) umkippt und entsorgt wird – in den Worten des großen Liederdichters C. Theussl: „gesund gestorben, perfekt verreckt“.

Nein, ich werde mich nicht schon wieder über das Rauchverbot aufregen oder darauf hinweisen, daß es die sinnloseste Dummheit der Welt ist, ein langweiliges Leben so lang wie möglich auszudehnen – erst fünfzig Jahre zu warten, daß es besser wird, und dann fünfzig Jahre langsam zu vergessen, daß es nicht besser wird. Aber eines frage ich mich halt schon: Am gesündesten (und am längsten gesund) sind die Menschen nachweislich dann, wenn sie glücklich sind. Und am glücklichsten sind die Menschen nachweislich dann, wenn die „sozialen Unterschiede“ so gering wie möglich sind – das heißt: wenn möglichst alle gleich viel Geld haben, Punkt. Warum rackert sich dann seit vierzig Jahren eine rot-grün-schwarz-und-vor-allem-gelbe Regierung nach der anderen ab, um mit Gewalt dafür zu sorgen, daß die sozialen Unterschiede immer größer und die Menschen somit immer unglücklicher werden?

Steckt dahinter die Fitneßindustrie, die ihren Krempel verkaufen will? oder einer der vielen grundsätzlichen Denkfehler, die man den Menschen leider immer wieder bescheinigen muß? „Gut geht es mir nur, wenn es mir schlecht geht! und schlecht geht es mir nur, wenn es den anderen noch viel schlechter geht!“? So geht es dann allen schlecht: den Armen, weil sie arm sind, und den Reichen, weil es ihnen Hirn und Magen zersetzt vor Angst und Gier. Bis zum Crash.

Da sollten sie lieber rauchen. Denn der Raucher hat, weil ihm jahrzehntelanges dementes Siechtum in vielen Fällen erspart bleibt, eine größere Chance, gesund zu sterben – früher zwar (obwohl unter den ältesten Menschen aller Zeiten erstaunlich viele Qualmer waren und sind); aber was ist schon Zeit? Geld, eben. Leider gilt die Gleichung umgekehrt nicht: Geld läßt sich nicht gegen neue Zeit eintauschen. Was weg ist, ist weg. Und das letzte „Hä?“ (beim Eintreten dieser Erkenntnis) hört niemand mehr.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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