Das Boulevardheftchen „Der Spiegel“ kam neulich seiner Verpflichtung als „vierte Macht“ nach und zeigte auf seiner Internetseite Photos eines spanischen Toreros, dem gerade ein Stier das Horn ins Kinn hinein- und beim Mund wieder hinausrammt. Worin der Informationsgehalt dieser Veröffentlichung liegt, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich (und den „Spiegel“-Leuten wahrscheinlich total egal); dazu muß man schon genauer hinschauen und stellt dann aber fest, daß der (im wahrsten Sinne des Wortes) betreffende Bulle da nicht etwa blindwütig in der Gegend herumhornt, wie man das „panischen“ Tieren gerne mal nachsagt – nein, was hier geschieht, ist ein Akt höchster Kampfkunst, der die Älteren unter uns eher an die Fernsehserie „Kung Fu“ erinnert.
Und hier liegt die Information, die der „Beitrag“ vermittelt: Obacht, Mensch! Der nämlich, der Homo sapiens als Art insgesamt, geht seit ein paar Jahrhunderten davon aus, daß ihm die Erde samt Gekreuch und Gefleuch untertan ist und er damit machen darf, was er will. Seit vor ein paar Jahrzehnten die Stricknadelnikoläuse in die Parlamente einzogen, um sich dort zügig in Wachstumsfaschisten ohne konfessionelle bzw. gewerkschaftliche Bindung („die neuen Liberalen“) zu verwandeln, hat ihn zwar eine Art schlechtes Gewissen befallen, weshalb er nun kaum mehr einen Satz äußern kann, in dem nicht die Blödvokabel „nachhaltig“ vorkommt, und im übrigen aber lauthals beteuert, er tue das alles ja nicht für sich, sondern für „die Wirtschaft“. Was im Gegensatz zum Sadistenpapa mit dem Lederriemen zumindest ein Teil zumindest der „neuen Liberalen“ wahrscheinlich sogar noch glaubt.
Das ist aber wurst: „Nachhaltig“ (und zwar ganz besonders „nachhaltig“!) ist auch ein Atomkrieg (der aber wahrscheinlich nicht solche Verheerungen angerichtet hätte wie die ganz normale „Wirtschaft“ der letzten vierzig Jahre), auf „grünes Wachstum“ folgt unweigerlich die herbstliche Welke, „erneuerbare Energien“ gibt es nicht, und kaputt ist kaputt – der Planet in diesem Fall.
Daß der nicht dem Menschen allein gehört (und erst recht nicht seinen Kindern, die noch gar nicht geboren sind – was für eine irre Idee!), darauf kommt man als Mensch nicht so leicht; und glauben tut es der Mensch vielleicht noch am ehesten, wenn ihm vor laufender Sensationskamera ein Horn aus dem Schlund ragt und er als eine Art (noch) lebender Kleiderständerbehang an einem Stier dranhängt, dem keineswegs plötzlich der Kragen geplatzt ist, sondern der offensichtlich ziemlich lange überlegt, trainiert und geprobt hat für diesen ebenso individuell vergeltenden wie insgesamt symbolischen Stunt.
Was haben wir uns früher immer beömmelt, wenn die Sensationsverkäufer in der sensationslosen Zeit zum tausendsten Mal mit ihrem üblichen „Mann beißt Hund“-Karneval dahergekommen sind. Ist schon jemandem aufgefallen, daß das gar nicht mehr so oft passiert und daß die gegenteilige Kategorie „Hund erschießt Jäger“ neuerdings galoppierend überhandnimmt?
Berichtet wurde zum Beispiel (das ich, wie den Großteil der folgenden, Helmut Höge verdanke) in letzter Zeit von einem Saarbrücker Eichkatzerl, das gezielt Spaziergänger anfällt, kratzt und beißt, von zwei Eseln, die einen Mann von seinem offenbar zu lauten und zu stinkigen Motorrad rissen und förmlich zerfetzten, von Krähen, die ahnungslos Flanierenden Löcher in die Köpfe hacken, vom europäischen Welsfisch, der sich gesamtgewerkschaftlich organisiert, um kontinentweit Badegästen Stücke aus dem Hintern zu zwicken, vom weißrussischen Biber, der einen Angler ansprang und totbiß, weil der ihn photographieren wollte.
Ein kurzer Blick ins Internet zeigt: Einstmals harmlose Viecher, die die Zumutungen des Menschen klaglos ertrugen, selbst wenn er sie zu Milliarden schlachtete, um die Mülltonnen seiner Fastfoodabgabestellen und Supermärkte zu füllen, werden zunehmend rabiat. Milchkühe töten zufällig vorbeikommende Wanderer, Schweine fressen ihren eigenen Bauern auf, Elefanten und Tiger trampeln ihre Pfleger zu Brei beziehungsweise reißen sie in Stücke, Hirsche verfolgen Mountainbiker, und im thüringischen Gettersdorf schnappte sich neulich ein Bussard den Arm eines Mannes und krallte seine Krallen so fest hinein, daß die Feuerwehr das Tier in stundenlanger Feinarbeit aus dem Fleisch lösen mußte. Organisierte Terrorangriffe werden auch von Ponys, Rebhühnern, Hamstern, Schwalben, Ziegen, Hornissen, Schafen, Schwänen, Känguruhs und Kraken berichtet.
Immerhin: Obwohl zum Beispiel Bäume grundsätzlich in der Lage sind, sich über weite Strecken hinweg zu verständigen und ihre Blätter vorsorglich mit einem bitteren Alkaloid vollzupumpen, wenn hungrige Laubesser nahen, verhält sich die Pflanzenwelt vorläufig noch duldsam, was die Zumutungen der Menschenbrut angeht. Höchstens von ein paar Pilzen weiß man, daß sie immer giftiger werden und die interkontinentale Transportlogistik der Garten- und Landschaftsverschandelungskonzerne nutzen, um auch weit jenseits ihres eigentlichen Einzugsgebiets die Notaufnahmen mit sich in Koliken krümmenden Kleinfamilien zu füllen. Es ist aber noch nicht bekanntgeworden, daß sich zum Beispiel der niederbayerische Mais zusammentäte, um gezielt die Schneidwerke von Mähdreschern zu demolieren, oder sich durch die Mutation zum detonierfähigen Monstermais für jahrzehntelange gentechnische Entartung revanchiert. Warten wir ab, was auf diesem Gebiet noch auf uns zukommt.
Einstweilen bleibt festzustellen: Offensichtlich hat die Fauna dieses Planeten langsam die Nase voll von uns. Vielleicht sollten wir uns ihr gegenüber in den paar Jahrzehnten, die uns noch bleiben, einer gewissen Höflichkeit bemüßigen? Vorläufig nämlich sind die Viecher immer noch bei weitem in der Überzahl; und da mein guter alter Kater heute verdächtig stierartig glotzt, werde ich mit gutem Beispiel vorangehen und den Rest des Tages nutzen, um ihm ausgiebig zu huldigen.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.