Es zählt zum festen Repertoire meiner alljährlichen Sommervorsätze, so viele lustige, spannende, schöne, begeisternde, mindestens erfreuliche, bewußtseinserweiternde, hin-, mit- und umreißende Dinge wie nur möglich zu erleben, Tag und Nacht von wunderbaren Menschen umgeben zu sein, Sex zu haben, Bier zu trinken, Drogen zu nehmen, geile Musik zu hören, schöne Bücher zu lesen, in kristallperlenden Seen und Flüssen zu schwimmen, den blauen Himmel zu überstrahlen und in Gewitterschauern nackt auf der Straße zu tanzen. Deshalb entwickle ich in gewissen Momenten eine Art pädagogischer Radikalität: Wenn ich mit einer Ananas und einer Avocado in der Hand stundenlang an entwürdigenden Kassen herumstehen und zuschauen muß, wie brunzhäßliche Menschen tonnenweise Müll, Dreck und notfalls noch fünf Packungen Erfrischungsstäbchen aufs Rollband legen, dann möchte ich ihnen zurufen: Was ihr da tut, ist falsch! Es ist böse! Es wird euch noch unglücklicher und brunzhäßlicher machen, als ihr sowieso schon seid!
Das tue ich aber nicht, weil ich höflich, zurückhaltend und bescheiden bin und mir außerdem denke, daß man Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen kann. Selbst wenn mir eine Freundin umständlich und ausschweifend erklärt, daß sie keine Zeit hat, den Sommer zu erleben, weil sie erst einen depperten Job tun und überhaupt alles mögliche „muß“, um hinterher Zeit haben zu können, den Sommer zu erleben, der dann aber vorbei ist, weshalb sie wieder einen depperten Job tun muß, um sich einen Flug in eine Weltgegend leisten zu können, wo dann gerade Sommer ist, der aber ein ganz anderer Sommer ist, weshalb sie eigentlich lieber den Sommer hier erleben würde, was aber nicht geht, und daß sie das schon sehr schade finde, aber nichts dagegen tun könne, – selbst dann brülle ich nicht los, daß es ihr eigenes, einziges und unwiederbringliches Leben ist, das sie da verschwendet. Nein, sie kann ja nichts dafür; man hat das so beigebracht bekommen und muß es also durchziehen, sonst bräche das System zusammen, und das wäre ja fürchterlich: keine Reklame mehr! kein Lärm mehr! eine ganze Welt ohne Wachstum, Wettbewerb und sinnlosen Müll!
Nun ist es mit dem Verschieben halt so, daß es irgendwann zu spät ist – was egal wäre, wenn die Sachen, die man aus tausend vernünftigen Gründen verschoben hat, irgendwie irgendwann zwischendurch aus der Welt verschwänden. Das tun sie jedoch nicht. Sie flutschen zwar aus dem Gegenwartsbewußtsein, weil darin nur Platz für „die Zukunft“ ist. Aber irgendwann gibt es dann plötzlich keine Zukunft mehr, weil der grinsende Kerl mit der Sense dringlich an der Tür klopft, und dann sind die ganzen aufgeschobenen Wünsche, Träume, Gedanken, Sehnsüchte wieder da. Und verwandeln sich in: Reue.
Es ist einer der fiesen, systemstabilisierenden Tricks des Lebens, daß man davon normalerweise nichts erfährt. Die, die einem davon künden könnten, dämmern weggesperrt in Krankenhäusern vor sich hin oder werden, wenn zum Beispiel ein SUV-Insasse beim Handyplappern eine Ampel übersieht, so plötzlich mit ihrer Reue konfrontiert, daß zum Künden keine Zeit mehr bleibt. Manchmal indes hört doch jemand zu, wie die Australierin Bronnie Ware, die als Palliativpflegerin acht Jahre lang gehört hat, was Sterbende so erzählen.
Es ist, kurz zusammengefaßt, immer das gleiche: „Hätte ich nur …“ lautet die alles verbindende Formel für die Klagen über die Aufschieberei, deren zentrale Themen Arbeit und Fremdbestimmung sind. Tatsächlich, berichtet Frau Ware, habe sie nicht einen einzigen Menschen erlebt, der Lohnarbeit verrichtet hat, ohne diese Dummheit im Angesicht des unweigerlich nahenden Endes zu bereuen – am schlimmsten beklagen sich die, die immer noch glauben, ihre Arbeit sei irgendwie „sinnvoll“ gewesen und sie hätten sie „geliebt“ oder zumindest freudig und gerne einen Sommer nach dem anderen dafür geopfert.
Selbst die, denen die Mühle der Ausbeutung als Profitsklaven erspart bleibt, stellen am Ende fest, die meiste Zeit Dinge getan zu haben, von denen sie glaubten, daß „man“ sie von ihnen erwartet, weil das eben so ist und immer war. Wie kann das sein? fragt man sich angesichts einer derart haarsträubenden Widersinnigkeit, deren konkrete Realität man alltäglich auf Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln in solch grauenerregend deprimierender Konkretheit vorgeführt bekommt, daß man eigentlich gar nicht anders kann, als in Panik zu entfleuchen.
Es ist, so vermute ich, ein Ausfluß eines Erziehungsprozesses, an dem so gut wie jeder teilnimmt, der sich irgendwie dazu äußert, perfiderweise nicht selten in guter Absicht und ohne zu merken, was sie oder er da plappert. Arbeit, sagt der Papst, sei grundlegend für die Würde einer Person. Jede Arbeit, sagt der Politiker, sei besser als keine. Arbeit, sagen die Medien, müsse „geschaffen“ werden. Arbeit, sagt der moderne Mensch, ist Leben. Arbeit, Arbeit, Arbeit, sagt das Wahlplakat, und wie ein Fischerchor der Enthirnten blökt die Bevölkerung des Planeten den Slogan ins leere All hinein, wo vermutlich ein paar müßige Aliens sich wundern, welch merkwürdiger, freudloser Karneval dort drunten veranstaltet wird.
Ohne Arbeit, so lautet der weltumspannende Konsens, geht der Mensch zugrunde. Und zwar nicht, weil es ihm dann an Geld fehlte, um sich Erfrischungsstäbchen zu kaufen – ein Großteil derer, die sich heute mit blödsinnigem Stumpfschmarrn im wahrsten Sinne des Wortes die (Lebens)Zeit vertreiben, kriegt dafür überhaupt kein Geld mehr, und wenn doch, würde er darauf in den meisten Fällen gerne verzichten, wenn er im Gegenzug ein „vielseitiges Tätigkeitsfeld“, „kreative Herausforderungen“ und ein gelegentliches Lob vom Chef bekäme.
Ohne Arbeit also ist der Mensch kein Mensch. Erst sie gibt ihm Würde und Wert, nur sie (man wagt kaum, es hinzuschreiben) macht frei.
Na, klingelt da was? Gut. Dieser Sommer geht zu Ende, aber im Gegensatz zur Palliativstation kommt wahrscheinlich bald ein neuer daher, und dann könnten wir mal versuchen, Würde, Wert, Freude und Freiheit zu erlangen, indem wir so viele lustige, spannende, schöne, begeisternde, mindestens erfreuliche, bewußtseinserweiternde, hin-, mit- und umreißende Dinge wie nur möglich erleben, Sex haben, Bier trinken, Drogen nehmen, geile Musik hören, schöne Bücher lesen, in kristallperlenden Seen und Flüssen schwimmen, den blauen Himmel überstrahlen und in Gewitterschauern nackt auf der Straße tanzen.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.